Taktische Finessen

Bevor heute mit dem Spiel Portugal gegen Spanien das erste Halbfinalspiel bei der Fußball-Europameisterschaft 2012 angepfiffen wird und morgen die deutsche Nationalmannschaft ihr Halbfinalspiel gegen den ‚Angstgegner’ Italien (die Bilanz bei WM- und EM-Spielen zwischen Deutschland und Italien: 7 Spiele: 0 Siege, 4 Unentschieden. 3 Niederlagen – zuletzt am 04.07.2006 bei der WM in Deutschland im Halbfinale: Deutschland – Italien 0:2 n.V.) bestreitet, möchte ich mich einwenig zu den taktischen Finessen im Fußball äußern.

Da gibt es erst einmal die Spielsysteme ausgehend von der Anzahl der Spieler, die in der Verteidigung, im Mittelfeld und im Angriff spielen. Das 4-4-2-System war traditionell eine der häufigsten Aufstellungen im Fußball (4 Verteidiger, meist als Viererkette bezeichnet – 4 Mittelfeldspieler – 2 Stürmer), wird aber heute nicht mehr ganz so oft gespielt. In dieser Konstellation agieren die Mittelfeldspieler meistens als Raute, d.h. es gibt einen defensiven, zwei zentrale und einen offensiven Mittelfeldspieler. Heute wird oft ein 4-2-3-1-System gespielt, wobei man das Mittelfeld noch einmal in defensive und offensive Mittelfeldspieler aufteilt. Die zwei defensiven Mittelfeldspieler werden dabei Doppelsechs (nach der früheren Rückennummer eines entsprechend agierenden Spielers) genannt. Dieses System finden wir z.B. bei der deutschen Mannschaft: in der Abwehr die Viererkette mit Lahm (linker Verteidiger), Badstuber und Hummels in der Innenverteidigung und Boateng (Lars Bender) auf rechts. Die Doppelsechs bilden Schweinsteiger und Khedira, im offensiven Mittelfeld finden wir links Schürrle (Podolski oder Reus), in der Mitte Özil und rechts Müller (Reus) – im Sturm Klose (Gomez).

    4-2-3-1-System

Natürlich dient ein solches Spielsystem der Orientierung und ist nicht starr. Besonders die beiden Außenverteidiger schalten sich bei Ballbesitz in den eigenen Angriff mit ein und besetzen zusammen mit offensiven Mittelfeldspieler die Flügel, um den Stürmer mit Flankenbällen zu bedienen. Auch die Doppelsechs rotiert oft während des Spiels, wobei sich einer der beiden defensiv, der andere dann offensiv verhält.

Etwas offensiver als das 4-4-2-System ist das 4-3-3-System, das vorwiegend von Portugal gespielt wird. An diesem System lassen sich auch ganz gut die Rückennummern erklären (das so genannte WM-System aus alten Zeiten lasse ich einmal außen vor, da gab es neben drei Stürmern noch zwei Halbstürmer …). Die 1 hat traditionell der Torwart. Die Vierer-Abwehr-Kette hat die Nummern 2 bis 5. Die Mittelfeldspieler haben dann die weiteren geraden Zahlen (6, 8 und 10), die Stürmer die ungeraden (7, 9, 11). Cristiano Ronaldo hat die Numero sieben, ist also das, was man früher als Linksaußen bezeichnete. Die 10 hat in der Regel der Spielmacher. Mesut Özil (Nummer acht) scheint seiner Nummer eine neue Interpretation zu geben (neben der Zentralen im Mittelfeld der kreative Spielmacher oder so).

Aber zurück zu den Spielsystemen: Die Spanier spielen ein 4-1-4-1-System, das durch schnelle Positionswechsel dem Spiel eine hohe Dynamik verleiht. Die Risiken der offensiveren Aufstellung werden dabei durch eine enorme Ballsicherheit und einem hohen Anteil am Ballbesitz durch Kurzpassspiel ausgeglichen, jenem Tiki-Taka (auch Tiqui-taca) – der spanischen Bezeichnung für Klick-Klack-Kugeln -, wie es in dieser Perfektion zz. nur die Spanier beherrschen (spanische Nationalmannschaft und der FC Barcelona). Diese Art des Spiels hat für den Gegner zur Folge, dass er sich die Lungen aus dem Hals läuft.

„Angriff ist die beste Verteidigung“ versus Catenaccio

Offensiver Fußball ist meist sehr attraktiv, verheißt er viele Tore. Oft leider auch für den Gegner, der durch schnelle Konter die ‚freigewordenen Räume’ nutzen kann. Den Offensivfußball kann man in Aufbauspiel (z.B. das bereits erwähnte Tiki-Taka) versus Kick and Rush unterteilen. Der erste ist ein systematisches, eher geruhsam aufbauendes Angriffsspiel mit vielen Ballkontakten. Erst wenn sich ‚freie Räume’ beim Gegner auftun, versucht man in diese überfallartig vorzustoßen. Hohe Bälle sind meist verpönt. Beim Kick and Rush geht alles dagegen ganz schnell. Besonders im britischen Fußball fand man oft, zumindest früher, diese Angriffsspielweise. Dabei wird der Ball aus der Verteidigung hoch und weit nach vorne in den gegnerischen Strafraum geschlagen, um einen schnellen Abschluss zu erreichen. Der Vorteil ist, dass dabei kein langwieriges Aufbauspiel nötig ist. Die Engländer selbst kennen diesen englischen Ausdruck nicht und sprechen von „the long ball”. In den Schlussminuten bei knappen Rückstand mag dieses Kick and Rush Sinn ergeben, ansonsten ist es eher ineffizient.

Die Gegenmethode ist das massive Verteidigen. Dabei werden oft zwei Viererketten eingesetzt, d.h. auch das Mittelfeld agiert im Wesentlichen defensiv (auch Doppelriegel genannt). Höhepunkt dieser ergebnisorientierten Taktik ist der Catenaccio, ein Abwehrbollwerk mit zumeist fünf Verteidigern (5-4-1 oder als 4-5-1). Der Name verrät die Herkunft: Italien. Man spricht von dieser Spielweise auch als ‚mauern’. Nun die Italiener bevorzugen zz. durchaus einen offensiv ausgerichteten Fußball, der sie immerhin ins Halbfinale gebracht hat. Nach einem Führungstreffer ziehen sie sich dann aber gern zurück (Doppelriegel). Und die Abwehrreihen der Italiener haben es dann in sich. Für die deutsche Mannschaft ist also zu hoffen, dass sie möglichst früh zu einem Tor kommt, dann allerdings nicht so schnell wie gegen die gleichfalls defensiv ausgerichteten Griechen den Ausgleichstreffer hinnimmt. Denn sonst winken Verlängerung und sogar Elfmeterschießen.

Heute Abend müssen aber zuerst die Spanier beweisen, ob ihr Tiki-Taka nicht oft ein Schnörkel zu viel beinhaltet. Allein gegen Irland ging ihre Rechnung auf. Ansonsten schienen sie nur das Nötigste getan zu haben, um weiterzukommen. Aber das kann natürlich auch eine Täuschung gewesen sein. Vielleicht funktioniert ihr Kurzpassspiel gegen starke Gegner nicht immer so gut wie gewünscht. Zudem fehlt mit David Villa der Stürmer, der für das entscheidende Tor zuständig ist. Fernando Torres scheint mir noch seiner Form früherer Jahre hinterherzulaufen. Schon allein aus taktischer Sicht ist es auf jeden Fall ein interessantes Spiel.

Übrigens: Auf sportschau.de sind noch einmal alle Tore dieser EM zu sehen.

Und zuletzt hier noch einmal meine Tipps fürs Halbfinale:

27.06. 20:45 Donezk Portugal – Spanien Tipp 1:2
28.06. 20:45 Warschau Deutschland – Italien Tipp 2:0

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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