Heinz Strunk: Fleisch ist mein Gemüse

Wie es ist, in Harburg aufzuwachsen, das weiß Heinz Strunk genau. Harburg, nicht Hamburg. Mitte der 80er ist Heinz volljährig und hat immer noch Akne, immer noch keinen Job, immer noch keinen Sex. Doch dann wird er Bläser bei „Tiffany“, einer Showband, die auf den Schützenfesten zwischen Elbe und Lüneburger Heide bald zu den größten gehört. Aber auch das Musikerleben hat seine Schattenseiten: traurige Gaststars, heillose Frauengeschichten, sehr fetter Essen und Hochzeitsgesellschaften, die immer nur eins hören wollen: „An der Nordseeküste“ von „Klaus und Klaus“.

Wer wie ich eine Zeitlang in einer Band gespielt hat, die auf Betriebs- und Bürgerfesten viele Auftritte hatte, der kann gut nachvollziehen, was Heinz Strunk alias Mathias Halfpape alias Jürgen Dose (der mittlere ist wohl der richtige Name) in seinem Buch „Fleisch ist mein Gemüse“ beschreibt, das ich vor vier Jahren genussvoll gelesen habe. Vor allem, wenn das beschriebene Geschehen noch vor der Haustür passierte.

Fleisch ist mein Gemüse - der Film

Am 17. April kommt das Buch jetzt in einer Verfilmung von Christan Görlitz (auch Buch) mit Maxim Mehmet als jungen Heinz Strunk ins Kino. Ich bin gespannt, obwohl erste Verlautbarungen verheißen, dass der Film lange nicht an das Buch heranreichen soll. Außerdem bietet die Verfilmung im Vergleich zum Buch einen anderen Aufbau bezüglich der Rahmenhandlung. Im Film tritt nämlich der echte Heinz Strunk als er selbst mit in Erscheinung. Da er für die Rolle als Jugendlicher inzwischen zu alt ist, wurde eine neue Rolle hinzu geschrieben. Strunks Rumpf hängt, ähnlich wie eine Jagdtrophäe an der Wand eines Zimmers. Ihm gegenüber prangt ein Plüsch-Hirsch, mit dem sich Heinz unterhält. Zwischen den beiden spannt sich die versinnbildlichte Kinoleinwand, auf der sich das Leben von Heinz als Jugendlicher abspielt.

Für alle meine Jethro Tull-Fans: Heinz Strunk hat in seinem Buch Herrn Ian Anderson gewissermaßen ein literarische Denkmal gesetzt (auch wenn dieser am Ende nicht mehr ganz so gut wegkommt). Dort steht:

Aber die Musik ließ mich nicht los. Ein halbes Jahr später hörte ich zum ersten Mal die britische Band Jethro Tull und war elektrisiert. Der Frontmann Ian Anderson hatte sich historische Verdienste um die Rockmusik erworben: Er war der erste Mensch der Welt, der in einer Rockband Querflöte spielte!

Auf einmal wusste ich, was ich wirklich wollte: Ich wollte sein wie Ian Anderson, und ich wollte Querflöte spielen. Das mit Ian Anderson sagte ich Mutter natürlich nicht. Ihr gegenüber tat ich wieder harmlos, und sie willigte auch sofort ein („Aber du weißt, dass du dann auch üben musst, sonst bringt das nichts.“ – „Jaja.“) Weihnachten 1976 lag eine nigelnagelneue Querflöte von Yamaha unterm Tannenbaum. Tagelang bestaunte ich das wunderschöne Instrument, baute es zusammen und wieder auseinander und versuchte vergeblich, ihm Töne zu entlocken. So verbrachte ich die Zeit bis zum Unterrichtsbeginn damit, zu Jethro-Tull-Platten vor dem Spiegel zu posieren: Ich stand wie mein großes Vorbild einbeinig wie ein Storch vor dem Spiegel und tat so, als ob. Das war nämlich Ian Andersons Markenzeichen: einbeiniges Spiel. Genial! Ich fand, dass das die beste Performance seit Einführung des Showbusiness überhaupt war. Für meine Playbacks vor dem Spiegel hängte ich mir den guten Pelz von Oma um, denn Ian Anderson und seine Mannen hatten wirre, lange Haare und Bärte, und sie trugen Pelzmäntel. Richtige Freaks! Die hysterische Antipelzstimmung war damals noch weitgehend unbekannt. Für mich waren sie die größte Rockband aller Zeiten, scheiß auf die Beatles! Ich habe nie wieder jemanden so nachgeeifert wie dem zauseligen Storchenkönig und über Jahre nichts, aber auch wirklich gar nichts anderes gehört als Jethro Tull. Leider durfte ich mir die Haare nicht so lang wachsen lassen wie meine Vorbilder. Sobald die Spitzen die Ohren bedeckten, bekam der Blick meines Großvaters etwas Starres: „Du siehst ja schon wieder aus wie ein Beatle.“ Und ab ging’s zum Bahnhofsfriseur, ausgerechnet zum Bahnhofsfriseur! Meine Familie war eindeutig der Meinung, dass der dort tätige Jugoslawe hervorragend Haare schneide. Opa und ich also hin zum Harburger Bahnhof, ein fragender Blick des serbischen Meistercoiffeurs und dann das Todesurteil meines Großvaters: „Fasson!“ Ratzekahl wurde die Rübe abgeschabt, und ich sah so aus wie einer aus der geschlossenen Abteilung.

Trotzdem übte ich weiter begeistert Flöte. Nach einem Jahr begann ich auch noch mit Klavierstunden, da man Klavier für die Aufnahmeprüfung an der Musikhochschule braucht. Denn so viel stand fest: Ich würde Berufsmusiker werden! Mutter war zufrieden, nur meine Begeisterung für Rockmusik war ihr nach wie vor suspekt. („Hör doch mal richtig hin, Heinz, da wiederholt sich doch ständig alles, und dazu dieser monotone Rhythmus, immer nur bumbumbum, du bis doch musikalisch, da musst doch hören, dass das primitiv ist.“) Ich übte wie ein Verrückter! Manchmal stand ich schon um vier Uhr morgens auf, um vor der Schule zwei Stunden zu flöten: Mit siebzehn kam noch das Saxophon hinzu. Und dann entdeckte ich den Jazz.

Jazz war viel anspruchsvoller als Rock. John Coltrane konnte tausendmal besser spielen als Ian Anderson, Ritchie Blackmore und Emerson, Lake and Palmer zusammen! Der Jethro-Tull-Frontmann gefiel sich immer noch in seiner Rolle als lächerlicher Rockstorch, doch ich war schon viel weiter als er, übte wie ein Irrer Jazzstandards, versuchte hinter das Geheimnis der alterierten Tonleiter zu kommen und wie man am elegantesten von f-Moll nach Des-Dur moduliert.

aus Kapitel: Lehrjahre sind keine Herrenjahre (S. 43 f./1985)

Überhaupt nicht gut kommt Todtglüsingen weg, ein Ortsteil von Tostedt, der 1972 eingemeindet wurde. Immerhin widmet Heinz Strunk dem Ort ein ganzes Kapital (Geisterstadt). Allerdings muss er sich hier geografisch arg getäuscht haben. Das mit dem Edeka-Laden mag noch stimmen, aber ansonsten spricht nichts dafür, dass es sich um das reale Todtglüsingen handelt. Weder Schützenverein noch freiwillige Feuerwehr haben sich aufgelöst. Hier ein Teil des Textes:

Es kam in diesem Jahr noch eine weitere Karnevalsveranstaltung hinzu, der Todtglüsinger Faslam. Todtglüsingen war ein im Laufe weniger Jahre völlig verarmtes Dorf. Viele der Bewohner wurden arbeitslos, Höfe mussten zwangsversteigert werden, dann machte auch noch der einzigste Edeka-Laden dicht, und irgendwie ging alles den Bach hinunter. Die Todtglüsinger hockten entweder den ganzen Tag zu Hause vor dem Fernseher. Oder sie saßen im einzigen Gasthof, dem Gasthof Bruhn, und soffen. Gesoffen haben sie natürlich auch zu Hause. Die jungen Leute sahen zu, dass sie Land gewannen, und zurück blieben die Alten, Kranken, Kraft- und Mutlosen. Selbst Schützenverein und Freiwillige Feuerwehr hatten sich aufgelöst. Der Ort war dem Untergang geweiht. Das letzte gesellschaftliche Ereignis war der Faslam, der natürlich im Gasthof Bruhn gefeiert wurde. Der Bruhn’sche Festsaal verfügte über keine Bühne, sodass wir mitsamt unserer Anlage quasi auf der Tanzfläche standen. Bereits gegen neun war schätzungsweise ein Drittel der Männer schwer betrunken.

[…]

Irgendwann waren die Leute zu betrunken, um zu tanzen. Diejenigen, die sich gegenseitig totschlagen wollten, sind dazu freundlicherweise nach draußen gegangen. Mehrmals wurde gedroht, uns mitsamt unserer Anlage kaputtzumachen, und wir hatten es nur dem beherzten Eingreifen des noch halbwegs nüchternen Vorsitzenden zu verdanken, dass wir heil davonkamen.

In Todtglüsingen haben wir nie wieder gespielt, obwohl sie uns im nächsten Jahr unbedingt wiederhaben wollten und sogar bereit waren, noch dreihundert Mark Gage draufzulegen. Wie es den Todtglüsingern heute wohl geht? Steht die Ortschaft überhaupt noch? Was macht Susanne oder Sabine oder Silke? Vielleicht hat es ja auch einen überraschenden Aufschwung gegeben. Ich drücke dem gebeutelten Dorf jedenfalls fest die Daumen.

Aus Kapital: Geisterstadt (S. 197ff./1994)

Über WilliZ

Wurde geboren (in Berlin-Schöneberg), lebt (nach einem Abstecher nach Pforzheim, längere Zeit in Bremen und Hamburg) in dem Örtchen Tostedt am Rande der Lüneburger Heide - und interessiert sich für Literatur, Musik, Film und Fotografie (sowohl passiv wie aktiv) ... Ach, und gern verreise ich auch!

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