Was ist bloß mit Ian los? Teil 29: Sexy Ian schreibt Noten

Hallo Wilfried,

ich habe Deinen ergänzten Beitrag zur Personalaffäre gelesen. Wenn ich die Zeilen richtig interpretiere, hast Du ganz schön Federn lassen müssen. Das tut mir Leid. „Der Gerechte muss viel leiden.“ Psalm 34, 20.

Disturbed Air gefällt mir nicht, das vermutest Du richtig. Diese Musik enthält keine Elemente, die ich als Wohlklang empfinden würde. Langsam komme ich mir vor wie der gute alte Mephisto: „Ich bin der Geist, der stets verneint…“

Den Text der Hasenfabel als nicht schwierig und tiefsinnig zu bezeichnen ist eine sehr wohlwollende Umschreibung. Gleichgültig, wer dieses skurrile Intermezzo verbrockt hat, Anderson, Hammond oder Evan, Mr. Anderson trägt die Verantwortung dafür. Wenn er eines fernen Tages Einzug in den Pantheon der Musikgötter hält, werden Euterpe und Aoide in deswegen in die Zange nehmen.

Richtig froh bin ich über Deinen freiwilligen Hinweis auf die mannigfaltigen Einnahmequellen des Mr. Anderson. Sonst bin ich oft derjenige, der darauf hinweist.

Mr. Anderson’s Auftritt mit Hut und Anzug kannte ich bereits aus Deiner Videosammlung. Wenn er mir mit diesem Outfit in Düsseldorf auf der Kö entgegengekommen wäre, hätte ich ihn sicher nicht erkannt.

Anderes Thema:
Ich habe vielleicht schon erwähnt, dass ich die Musik von Kate Bush mag. Nach dem Genuss von einigen Bush-Videos in YouTube sind mir einige Gemeinsamkeiten zwischen Kate Bush und Ian Anderson aufgefallen: Beide beziehen sich in ihren Texten und ihrer Musik stark auf ihre britische Heimat und bringen ihre Liebe zu den Inseln zum Ausdruck. Beide sind sehr ausdrucksstarke Künstler. Ihre Darbietungen sind sehr körperbezogen und arbeiten mit extensiver Mimik und Gestik. Beide verfügen über eine große körperliche Geschicklichkeit. Bei Mr. Anderson wirkt(e) der körperliche Einsatz kraftvoll-intuitiv, bei Mrs. Bush bemerkt(e) man ihre Ballettausbildung. Beide Künstler verfügen über eine gewisse erotische Aura. Darauf sind wir im Zusammenhang mit Mr. Anderson noch nie eingegangen. Wenn man sich seine Auftritte in Stretch- oder Strumpfhosen, teilweise mit farblich abgesetzten Suspensorien, vor Augen hält, wird vielleicht klar, was ich meine. An der Erotik der Mrs. Bush wird wohl kein Zweifel bestehen.

Auf Deine Stellungnahme zu diesen Zeilen freue ich mich schon jetzt.

In Erwartung Deiner Gegenrede verbleibe ich
mit schmunzelnden Grüßen

Dein
Lockwood

04.11.2006

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Hallo Lockwood,

ob ich ein Gerechte bin, möchte ich bezweifeln. Aber ich mühe mich. Und Leid tun muss ich Dir nicht, die Personalaffäre war auch sehr lehrreich. Aber wirklich genug.

Zu „Tallis“ und dem Lied Disturbed Air: Es enthält viele klassische Elemente und beweist dadurch, dass David Palmer daran seinen Anteil hatte. Aber mir gefällt es auch nicht. Allein den Gesang finde ich scheußlich. Es kommt aus einer musikalischen Nische, in der sich weitere Tull-Ableger getummelt haben. Ich denke da an den Saxophonisten (und auch Flötisten) Jack Lancaster, der zwar direkt nichts mit Jethro Tull zu tun hatte, aber bei Blodwyn Pig mit Mick Abrahams spielte und auch später immer wieder gern auf Ex-Tull-Musiker zurückgriff (z.B. den Drummer Clive Bunker).

Ich will Jack Lancaster nicht mit Ian Anderson vergleichen. Lancaster ist zwar auch Flötist, aber in erster Linie spielt er Saxophon in den unterschiedlichsten Stimmungen und das Lyricon. Außerdem kommt er mehr aus der Jazz-Rock-Ecke.

In diesem Zusammenhang komme ich kurz auf Deine Frage (und die anderer) zurück, ob Anderson Noten lesen und schreiben kann. Zu meinem Youtube-Video „Ian Anderson/Dee Palmer: Elegy live“ fragt in den Kommentaren jemand an: „Does anyone know if Ian ever learned to read music? He claimed to not know how to read music back in the early 70’s, nonetheless he must have an incredible memory to remember such long pieces by rote.“

Also das unglaubliche Gedächtnis braucht man auch, wenn man Noten lesen kann (aber ohne Notenblätter auftritt). Nach der Aussage konnte also Anderson zunächst keine Noten lesen. Ich erinnere mich, Ähnliches schon woanders gelesen zu haben (Forum von laufi.de?!). Es gibt aber diverse handgeschriebene Notenblätter, die anscheinend die Handschrift Andersons tragen. Ich denke also, dass er sich mit seinem Hang zur Perfektion auch das Notenlesen und –schreiben mit der Zeit angeeignet haben muss. Vielleicht mit Unterstützung von David Palmer.

Jack Lancaster dürfte das Lesen und Schreiben von Musik auf jeden Fall beherrschen, denn er hat sich u.a. durch Adaptionen klassischer Stücke hervorgetan, z.B. in der Neuinterpretation von Sergei Prokofjews ‘Peter und das Wolf’, einem Projekt, an dem u.a. auch Manfred Mann, Phil Collins, Gary Moore, Alvin Lee und Cozy Powell teilnahmen. Oder mit dem niederländischen Keyboarder Rick van der Linden 1979 in der elektronischen Umsetzung von Carl Orffs Chorsatz „O Fortuna“ aus Carmina Burana.

Der Gruppe Tallis ähnlich klingen die Produktionen der Gruppe „Aviator“ ebenfalls aus dem Jahre 1979, in der neben Jack Lancaster auch Clive Bunker spielte. Danach gab es dann wohl noch u.a. die Solo-CD „Skinningrove Bay“ aus 1981 von Lancaster, auf der u.a. auch wieder Phil Collins und Clive Bunker mitmischten. Es handelt sich dabei wohl um alte Seilschaften (u.a. besteht eine Verbindung zwischen Collins und Lancaster über die Gruppe ‚Brand X’). Danach spielte er wohl wieder mit Mick Abrahams’ Blodwyn Pig zusammen.

Ähnlich wie Maartin Allcock, der 1988/89 bei Jethro Tull u.a. die Keyboards gespielt hatte („Rock Island“) und aus der Fairport Convention-Ecke kommt, hat sich Lancaster eine Zeitlang mit Komposition für Videospiele und Soundtracks über Wasser gehalten und als Studiomusiker bei diversen Plattenveröffentlichungen mitgewirkt. Zumindest letzteres ist bestätigt.

Genug des Exkurses. Aber die Tull-Landschaft beschränkt sich nicht nur auf Herrn Anderson.

Wie bescheiden Du bist: „Ich habe vielleicht schon erwähnt, dass ich die Musik von Kate Bush mag.“ Du hast es bereits öfter erwähnt und mehr als nur ‚erwähnt’. Ich gestehe, dass ich auch mehrere Scheiben von Kate Bush habe (auch diese als Vinyl -LPs). Es ist wohl die Stimme, die mich fasziniert hatte: engelsgleich. Und sicherlich wird mich auch „eine gewisse erotische Aura“ an der guten Kate nicht gestört haben. Bevor ich in diesem Zusammenhang auf Herrn Anderson zu sprechen komme, eine sehr banale Feststellung: Wer heute als Musiker bzw. Sänger seine Lieder an die Leute bringen will, muss auch in seinem ‚körperlichen Einsatz’ einiges bieten. Guck Dir einmal Videos von Britney Spears oder Christina Aguilera an, dann weißt Du, was ich meine. Da spielt allerdings das ganze Dumherum meist eine größere Rolle als die Musik.

Wer also etwas werden will, muss nicht nur gut singen, sondern muss in den Video- und Live-Auftritten auch die optischen Wünsche des Hörers/Zuschauers befriedigen können. Besonders für ‚Außenstehende’ wird Jethro Tull in erster Line durch Ian Anderson verkörpert: Der Mann, der die Flöte auf einem Bein spielt! Und Kate Bush ist neben dem engelsgleichen Gesang auch körperlich eine Feengestalt.

Optik hat dabei sicherlich viel mit Erotik zu tun. Bei Kate Bush ohne Frage. Bei Herrn Anderson und seinen Jungs … Also mich haben seine Strumpfhosen nicht gerade angemacht. Und seine obszönen Gesten mit der Flöte fand und finde ich besonders heute eher peinlich, gehört aber eben dazu (und ist heute eine Art der Selbstparodie). Für meine Frau, die dazu eher etwas sagen könnte, ist und war Ian Anderson nie ‚ihr Typ’. Vielleicht bin ich zu sehr heterosexuell orientiert, aber viel Erotik kam da für mich nicht ’rüber. Es war lustig anzuschauen, mehr aber auch nicht. Und wenn ich meiner Interpretierlinie treu bleiben soll: Es war nicht viel anderes als die Verarschung sexueller Symbolik. Herrn Mick Jagger sagt(e) man nach, mit einer Hasenpfote an entsprechender Stelle nachzuhelfen. Bei Ian Anderson hätte es mich nicht verwundert, wenn er aus seinem Schritt z.B. ein weißes Kaninchen gezaubert hätte.

Sexy Ian

Vielleicht hast Du es schon gesehen: Das „Heavy Horses“-Video habe ich in etwas besserer Qualität jetzt bei youtube.com abgelegt. Bisher gab es dort nur eine Kurzfassung. Auch auf meiner Website rufe ich jetzt das Video von youtube.com aus auf.

Jetzt ist aber genug.
Eine gute Woche
wünscht Dir Wilfried

P.S. Im Zusammenhang mit Jack Lancaster bin ich auf eine interessante Site gestoßen, die die diversen Verbindungen (Family Trees) einzelner Musiker zu den Bands, in denen sie gespielt haben, aufzeigt. Leider nicht vollständig, aber immerhin. Apropos Family Tree: Etwas Entsprechendes muss ich auch in meiner Sammlung haben.

P.P.S. Lass Dir aus gegebenem Anlass etwas Angemessenes einfallen: Am 17. November wird Martin Barre 60 Jahre alt. Über ihm haben wir bisher nur am Rande (stage left) geschrieben. Er hat ohne Zweifel mehr verdient. Kennst Du übrigens seine Solo-Alben?

06.11.2006

English Translation for Ian Anderson