Archiv für den Monat: Mai 2013

Kafkas Unterschrift

Alfred Dorn kennen wir aus Martin Walsers Roman Die Verteidigung der Kindheit. In diesem finden wir einen Samstag im Leben des Roman(un)helden beschrieben, der zunächst wie folgt abläuft:

Am Samstagvormittag holte er bei seinem Buchhändler die bestellte Kaspar-Hauser-Biographie ab, ging ins ESWE-Bad, aß Italienisch, fuhr heim.

Bei dem Bad handelt es sich übrigens um das heutige Freizeitbad Mainzer Straße in Wiesbaden (früher: ESWE-Bad). – In seiner Schulzeit zeigte Alfred Dorn ein besonderes Talent im Fälschen von Unterschriften. So verhalf er seinen Mitschülern zu manch gefälschter Elternunterschrift. Im Roman geht es wie folgt weiter:

… In der Buchhandlung hatte er einen Verlagsprospekt mitgenommen, in dem Kafkas Werke angeboten wurden. Ihn hatte die auf dem Prospekt faksimilierte Unterschrift Fran Kafkas angezogen. Zu Hause fing er an, diese Unterschrift zu üben. Wie das K unten ausschwingt, um die restlichen Buchstaben des Namens wie eine Schale aufzunehmen, dann aber vom f geschnitten wird und gleich aufhört! Er füllte viele Seiten mit diesen Unterschriftsübungen. Morgen würde er sehen, ob seine Hand ein einziges Mal in die Bewegung des Originals hineingefunden habe. Er fand die Unterschriften anderer interessanter, schreibenswerter als seine eigene. Er würde sich einmal dokumentieren als jemand, der nicht auf sich bestehen konnte.

    Kafkas Unterschrift – aus dem Verlagsprospekt

Und …

Dann Telephonate wie immer am Samstag.

aus: Martin Walser: Die Verteidigung der Kindheit
(Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt/Main – st 2252– erste Auflage 1993 – S. 516)

Vor einem Jahr unternahm meine Frau mit ihrer Mutter einen Tagesausflug nach Graal-Müritz an der Ostsee. Kafka weilte vom Juni bis September 1923 (ein Jahr vor seinem Tod) mit seiner Schwester Elli in Müritz und lernte dort seine letzte Lebensgefährtin Dora Diamant kennen (siehe meinen Beitrag: Kafka lächelt mir traurig zu – aber er lächelt). Die kleine Kafka-Vitrine im Heimatmuseum von Graal-Müritz konnte sie zwar nicht besichtigen, aber immerhin brachte sie mir ein gezeichnetes Bildnis Kafkas – eben mit der erwähnten Unterschrift versehen – von der Tagestour mit. Das Bild hängt jetzt in meinem Zimmer.

    Kafka – Zeichnung aus Graal-Müritz/Ostsee

Martin Walser promovierte 1951 in Tübingen mit einer Dissertation zu Franz Kafka:
Beschreibung einer Form: Versuch über Kafka. Dabei mühte sich Walser erst gar nicht über eine Interpretation, Kafka näher zu kommen, sondern tastete sich (wie der Titel schon sagt) an Kafka über die Form heran, über die Untersuchung des Wortes „Schreiben“, wie Kafka seine Ausdrucksmöglichkeit nannte. Walser führt hin zu dem Bild, dass Kafka seine bürgerliche Person reduziert zu Gunsten der stetig wachsenden poetischen Person, Kafka sich selbst an den Schreiber Kafka abgibt und sich dort verwirklicht. Auch Walsers Leben ist geprägt vom ‚Schreiben’. Die (klein-)bürgerliche Person Martin Walser ist auch hier zur poetischen Person angewachsen. Beide, Kafka wie Walser, bevorzugen dabei das handschriftliche Schreiben (Walser: Ein handgeschriebener Brief ist noch in der sachlichsten Form eine Intimität.). Beide führten oder führen Notizbücher mit sich. So ist die Schrift für sich zum markanten Merkmal geworden (siehe auch: So schreiben wie Kafka), ein Fingerabdruck – im Gegensatz zu maschinell verfassten Texten. Schreiben als Schrift.

30. Mai

Den letzten Weltuntergang haben wir ja gerade überlebt, da wartet auf uns schon der nächste. Heute ist nämlich Weltweltuntergangstag (so wie Weltspartag), denn in einem uns bekannten Lied heißt es doch: „Am 30. Mai ist der Weltuntergang, wir leben nicht mehr lang …“

    Am 30. Mai ist der Weltuntergang

Also für alle Fälle das Köfferchen mit den Überlebensrationen (Emergency Ration nennt es der Angelsachse), der Eisernen Ration, gepackt und die ABC-Schutzplane über den Kopf gestülpt. Dann kann er ruhig kommen, der Weltuntergang. Wir werden ihm einen husten.


Die toten Hosen – Am 30. Mai ist der Weltuntergang

Am Ende des Weltuntergangsliedes heißt es übrigens:

Doch keiner weiß in welchem Jahr
und das ist wunderbar.
Wir sind vielleicht noch lange hier
und darauf trinken wir.

Also im nächsten Jahr dann vielleicht wieder auf ein Neues … ?! Prost, meine Damen und Herren!

Willst Lakritz? Otto Kopka ist tot

Es gibt nicht viele Menschen, vor denen ich wirklich Hochachtung habe. Jetzt ist so ein Mensch, Otto Kopka, letzte Woche, am 23. Mai, im 82. Lebensjahr verstorben. Bevor Otto Kopka mit seiner Frau Christa 1995 wie ich mit meiner Familie nach Tostedt zog, war er 30 Jahre als Pastor in Marschacht an der Elbe tätig. In Tostedt verbrachte er seinen Lebensabend.

Otto Kopka (1931-2013)

Als gute Nachbarn hatten wir oft genug Kontakt miteinander und wurden auch öfter von Otto und seiner Frau, nach deren Tod von ihm und seiner Lebensgefährtin, zum Kaffee eingeladen. Bei den anregenden Gesprächen über „Gott und die Welt“ verging die Zeit wie im Fluge. Da sowohl mein Vater wie auch der Vater meiner Frau aus Ostpreußen stammten und Otto Kopka ebenfalls in Masuren 1931 geboren wurde, so haben wir auch über Flucht und Vertreibung während des 2. Weltkrieges und danach gesprochen (siehe auch: Wie konnte es geschehen?).

Wir sprachen auch über die zwischen Ende 1989 und Mai 1991 verstärkt aufgetretenen Leukämie-Erkrankungen in der Samtgemeinde Elbmarsch (8.000 Einwohner), zu der die Gemeinde Marschacht gehört. Fünf Kinder zwischen einem und neun Jahren sowie ein junger Erwachsener waren erkrankt. Die Samtgemeinde Elbmarsch liegt im Urstromtal der Elbe. Das gegenüberliegende Elbufer, an dem das AKW Krümmel liegt, steigt bis zu 70 Metern steil an. Die Krankheitsfälle traten alle entlang der Elbe auf niedersächsischer Seite auf, fünf direkt gegenüber dem Atomkraftwerk Krümmel, in dessen Nachbarschaft sich einer der ältesten deutschen Kernforschungsreaktoren befindet (siehe hierzu: Bürgerinitiative gegen Leukämie in der Elbmarsch – Buchbeitrag: Die Leukämie in der Elbmarsch). Otto Kopka, damals noch Pastor im Amt, traute den hoffnungslos an Blutkrebs erkrankten Sönke und seine Verlobte Anke: „Anfang Oktober tritt er mit seiner Verlobten vor den Traualtar. Trauer und Glück in einem, Pastor Kopka spricht die Dinge so an, wie sie sind. Daß auch ihm die Stimme zeitweise versagt, ist nur zu verständlich. Auch wenn Sönke im Rollstuhl fährt – die Hochzeit wird im ‚Marschachter Hof’ gefeiert.“

Otto Kopka sang lange Jahre mit kraftvollem Bariton in der Johanneskantorei Tostedt und auch im Heidenauer Kirchenchor. Im Februar 2010 durfte ich mit meiner Frau ihn mit dem Chor und weiteren Mitwirkenden beim Oratorium Der Messias von Georg Friedrich Händel sehen und hören. Die Karten hatten wir von ihm.

    Pastorin Ruth Stalmann-Wendt mit Otto Kopka (Pastor i.R.)

Adventskonzert in der ev.-luth. Maria-Magdalena-Kirche Heidenau am 13.12.2010
Pastorin Ruth Stalmann-Wendt mit Otto Kopka (Pastor i.R.) – Quelle: Gemeindebrief der Kirchengemeinde Heidenau

Otto Kopka, der uns später das Du anbot, war ein aufrechter Christ, der sich vor keinen Karren spannen ließ, vor allem keinen kommunalpolitischen. Er war engagiert in Dingen, die ihn interessierten. So lernte er ausdauernd Polnisch, um mit der Deutsch-Polnischen Gesellschaft Tostedts polnische Partnerstadt Lubasczów zu besuchen.

Zum Ende einer Begegnung mit ihm las Otto Kopka uns immer gern etwas vor. Was war da Näherliegendes als eine Erzählung aus Siegfried Lenz’ „So zärtlich wie Suleyken“:

… oder kratzten sich am Fuss oder am Bein.
Dann, nach angemessener Weile, erfolgte wieder etwas Ungewöhnliches. Joseph Gritzan langte in die Tasche, zog etwas Eingewickeltes heraus und sprach zu dem Mädchen Katharina Knack: «Willst», sprach er, «Lakritz?»

Cloud Atlas

Cloud Atlas ist eine Literaturverfilmung aus dem Jahr 2012 nach David Mitchells Roman Der Wolkenatlas. Die US-Amerikaner Lana und Andy Wachowski und der Deutsche Tom Tykwer schrieben gemeinsam das Drehbuch und führten Regie. ‚Cloud Atlas’ gilt zum Zeitpunkt seines Entstehens als einer der teuersten bis dahin produzierten Independentfilme und als der bei weitem teuerste deutsche Film. Als Darsteller sehen wir in jeweils mehreren Rollen Tom Hanks, Halle Berry, Jim Broadbent, Doona Bae, Susan Sarandon, Hugh Grant u.v.a. (Grafik: Übersicht der handelnden Personen zwischen gut und böse).

    Cloud Atlas – Film von Tom Tykwer & den Wachowski-Geschwistern

Der Film Cloud Atlas behandelt sechs verschiedene Schicksale, die einen Zeitraum von 500 Jahren umfassen. Die einzelnen Geschichten sind miteinander verbunden. Die einzelnen Erzählstränge und Zeitebenen wechseln sich im Film ständig ab:

Südpazifik, 1849
Cambridge und Edinburgh, Großbritannien, 1936
San Francisco, 1973
Großbritannien, 2012
Neo-Seoul, Korea, 2144
106. Winter nach der Apokalypse

Ein alter Mann, genannt Zachry (Tom Hanks), erzählt einer Gruppe, die um ein Lagerfeuer herumsitzt, eine lange Geschichte. Diese beschäftigt sich mit den Figuren aus ganz unterschiedlichen Zeitepochen und dennoch sind deren Schicksale allesamt miteinander verknüpft: Ein gebrechlicher Doktor (Hanks) trifft im Jahre 1849 auf einen Anwalt (Jim Sturgess) und einen ausgebrochenen Sklaven (David Gyasi); zwei Komponisten (Jim Broadbent, Ben Wishaw) konkurrieren 1936 miteinander in Cambridge; um 1970 nimmt es eine Journalistin (Halle Barry) mit dem Chef eines Kernkraftwerks (Hugh Grant) auf; 2012 muss ein vom Glück verlassener Buchverleger mit seinem Leben zurechtkommen (Broadbent); 2144 kommt es in „Neo Seoul“ zu einer Affäre zwischen einer Sklavenarbeiterin (DoonaBae) und einem Rebell (Sturgess), der ihr das Leben gerettet hat, und im 24. Jahrhundert verbündet sich schließlich Zachry mit einer reisenden Forscherin (Berry) auf der Suche nach einer bahnbrechenden, alles verändernden Entdeckung…

aus: filmstarts.de


Cloud Atlas – Trailer HD

Mit meinem jüngsten Sohn habe ich den Film am letzten Wochenende gesehen. Wer die Romanvorlage nicht kennt wie ich, wird sich zunächst in dem Film ziemlich verirren. Ein Grund ist wohl der, dass man als Zuschauer versucht, die bestehenden Zusammenhänge ausfindig zu machen. Daher gleich der Tipp: Vernachlässigt das und konzentriert euch auf den Film als solches. Es sind dann eben sechs voneinander (mehr oder weniger) unabhängige Episoden, die nur ständig wechseln. Gegen Ende wird man dann auch von allein den einen oder anderen Zusammenhang ausmachen. Und dann vielleicht den Film bald noch einmal sehen.

Der Deutsche Tom Tykwer (bekannt durch Filme wie Lola rennt und Das Parfüm) führte zusammen mit den Wachowski-Geschwistern (Macher der Matrix-Filme) Regie bei dem Film. Das versprach einiges. Am Ende ist es dann ein Blockbuster in Hollywood-Manier geworden, dabei durchaus einer der besseren Art. Und trotzdem bin ich eher enttäuscht. Mit dem Film wird man gewissermaßen erschlagen durch zu viele Handlungsstränge, durch zu viele Bilder und letztendlich auch durch zu viele handelnde Personen. Auf den anderen Seite wären die einzelnen Episoden für sich allein ziemlich mager und reichten höchstens für mehrere Kurzfilme, die Personen ‚schwimmen’ an der Oberfläche. Was als Buch vielleicht ‚geht’, muss als Film noch lange nicht ‚gehen’.

Was wäre, wenn …

Es ist nicht so, dass ich dem FC Bayern München den Sieg in der Champions League nicht gönne. Aber was wäre, wenn … wenn der Schiedsrichter aus Italien Franck Ribéry (FC Bayern) nach seinem Foul, dem Schlag ins Gesicht von Robert Lewandowski (Borussia Dortmund), in der 26. Minute vom Platz gestellt hätte? Seltsamerweise kippte das Spiel nach diesem Foul zugunsten der Bayern. Zuvor hatten die Dortmunder den Ton angegeben und einige Torchancen herausgespielt, aber nicht verwertet. Ribéry war dann nicht unerheblich an den beiden Toren für die Münchener beteiligt, die sicherlich am Ende verdient mit 2:1 gegen Borussia Dortmund im ersten deutsch-deutschen Champions League-Finale siegten. Aber was wäre, wenn

    Ribéry (FC Bayern) foult Lewandowski (Dortmund) in der 26. Minute

Nachdem bei den Frauen der VfL Wolfsburg nach Meisterschaft und Pokal auch die Champions League im Frauenfußball gewonnen hat, macht sich jetzt der FC Bayern München daran, das so genannte Triple aus Meisterschaft, Sieg in der Champions League und eben den DFB-Pokal (am Samstag, den 1. Juni im Berliner Olympiastadion gegen den VfB Stuttgart) zu holen. Die Stuttgarter haben sich durch das Erreichen des Endspiels für die Europa League in der nächsten Saison qualifiziert.

Zu Martin Walser (1): Ich bin nicht Walser

Die Eins hinter dem „Zu Martin Walser“ deutet es bereits an: Es kommt noch mehr … Martin Walser ist einer ‚meiner’ Autoren. Er ist der Schriftsteller, ich bin der Leser. Wer schreibt, verarbeitet seine Erfahrungen, wer liest wie ich, liest, um Erfahrungen zu machen. Und so stolpert man hin und wieder über einen Autoren, der einen auf besondere Weise anspricht. Das ist in vielerlei Weise Martin Walser für mich.

Warum jetzt und insbesondere Martin Walser? Ich lese zz. von Jörg Magenau Martin Walser: Eine Biographie (Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg, rororo 24772 – aktualisierte und erweiterte Neuausgabe, Oktober 2008). „Eine Biographie ist eine Anmaßung.“ (S. 15) schreibt Jörg Magenau, besonders wenn es um einen noch lebenden Schriftsteller geht. Zum Biographiebegehren sagte Walser: „Was Sie da vorhaben, habe ich auch schon dreimal gemacht. Nur habe ich es immer ‚Roman’ genannt.“ Eine Biographie ist ein Puzzle aus vielen unzähligen Einzelteilen, die nicht immer zusammenzupassen scheinen. Und immer fehlen Teile. Trotzdem ist es kein Roman. „Nichts lässt sich erfinden, alles muß gefunden werden.“ (S. 15). Natürlich kann eine Biographie immer nur ein ‚Bild’ vieler möglicher Bilder sein.

    Jörg Magenau: Martin Walser - eine Biographie

Nach fast zwei Drittel des Buchs bin ich dankbar, dass es diese Biographie gibt. Sie gibt Aufschluss über einen Mann, der bereits 86 Jahre zählt und immer noch nicht am Ende ist – zu erzählen. Denn „Walser ist unentwegt damit beschäftigt, Leben in Sprache zu verwandeln. Was ihm zustößt, beantwortet er mit Literatur.“ (S. 15). „Sein Schreiben ist ein ‚Entblößungs-Verbergungs-Spiel.’ […] ‚Es muß raus, aber als Verborgenes. Verbergen heißt ja nicht verschweigen.’“ (S. 16).

Walser der ‚dröhnende Meinungsmacher’ und ‚Politprovokateur’„Ob ‚Gesellschaftskritiker’, ‚Kommunist’ oder ‚Nationalist’ – in jeder Phase der Bundesrepublik klebte ihm das jeweils schädlichste Etikett an.“ – „Diese wuchernden Augenbrauen! Diese alemannische Starrköpfigkeit! Dieser Schmerzensreiche, Wehleidige, Dauerbeleidigte! Dieser Geschichtsempfinder und Deutschlanderleider.“ (S. 18) – Und dann ist da noch der Bodensee, von dem sich Martin Walser nie hat lösen können. Ohne das „Schwäbisches Meer“ wären all die Romanfiguren von Anselm Kristlein bis hin zu Gottlieb Zürn nicht möglich.

Ich bin nicht Walser, betitele ich diesen Beitrag. Aber auch wenn ich viele Jahre jünger bin (wenn auch nicht mehr der Jüngste), so gibt es doch Anknüpfungspunkte, die mich mit Walser näher bringen. Die Adenauer-Jahre habe ich noch nicht bewusst erlebt. Dafür bin ich aber schon als Jugendlicher mit einem repressiven Staat in Berührung gekommen, als ich mich 1968 an den Straßenbahnunruhen in Bremen beteiligte. Die 68er-Bewegung der Studenten hatte auch meine Schule erreicht. Durch den Vietnam-Krieg und hier durch die deutsche Politik als Unterstützer der USA wandte sich Martin Walser politisch immer mehr nach links. So reiste Walser nach Moskau und galt in den sechziger und siebziger Jahren als Sympathisant der DKP, der er aber nie als Mitglied angehörte. Ein Punkt, auf den man näher eingehen sollte. Ich selbst hatte damals Kontakt zu linksgerichteten, so genannten Basisgruppen, wurde aber durch die Dogmatik, dem Glaubenseifer sehr schnell abgeschreckt. Ähnlich muss es Walser 1971 ergangen sein, als er in Moskau zu einem internationalen Schriftstellerkongress eingeladen war. „Auf das pathetische öffentliche Bekenntnis zum Sozialismus folgte dort postwendend die Ernüchterung. Der Besuch in Moskau war, so sagte er rückblickend, ‚Tödlich für jede Hoffnung.’“ (S. 295)

Walser gilt heute als Nationalist. Man sollte das nicht mit Chauvinismus und Ähnlichem verwechseln. In dem Buch heißt es zum Begriff der Nation: „Nichts Staatliches ist damit gemeint, kein Machtapparat, keine aufputschende Ideologie. Die Nation ist ein geschichtliches, sprachliches und kulturelles Zusammengehörigkeitsgebilde, dem man nicht entrinnen kann. Eine Schicksalsgemeinschaft, in die man durch Geburt gerät.“ (S. 287) – Hier finde ich mich ohne weiteres wieder. Das gilt insbesondere auch für die deutsche Sprache, die nun einmal meine Muttersprache ist. Ich habe keine Probleme damit, mich zu ihr zu bekennen und habe mich in diesem Blog mit ihr und ihren Ausformungen immer wieder auseinandergesetzt (siehe u.a. Wortschatz).

Als in Deutschland Geborener habe ich wie „jeder Deutsche … die ganze Geschichte geerbt und zu verantworten, damit also auch Auschwitz. Doch es gibt keine richtige Haltung gegenüber der Vergangenheit. Besonders grotesk fand Walser die Erfindung der ‚Vergangenheitsbewältigung’. Erst Auschwitz zu betreiben und dann als Rechtsnachfolger des NS-Staates Bewältigung auf die Tagesordnung zu setzen war geradezu anstößig. Seine vehemente Ablehnung von Gedenkritualen […] wird von hier aus begreiflich.“ (S. 373) – Dem brauche ich von meiner Seite aus nichts hinzuzufügen. Die Nazi-Vergangenheit nach dem Terminkalender zu bewältigen ist nicht genug. Wie lasch heute gegen Neonazis vorgegangen wird, verdeutlicht das.

Erwähnungswert ist ohne Zweifel Walsers Verbundenheit mit seiner Heimat. Es ist der Bodensee und es ist die Sprache, der Dialekt. „Gegen die Konjunktivkultur und die Konditionalfiligrane des Alemannischen, sagt Walser, ist das Hochdeutsche doch bloß eine Straßenwalze. Im Dialekt stimmten die Wörter. Sein Verlust – unausweichlich in einer kapitalistischen Ökonomie der Innovation – war eine ‚Vertreibung aus dem Paradies’ … Nicht nur Tierarten sterben aus, sondern auch Worte und mit ihnen Denkmöglichkeiten.“ (S. 359). In meiner Kindheit lebte ich rund drei Jahre in Pforzheim und lernte noch vor dem Hochdeutschen Schwäbisch, einen westoberdeutschen Dialekt bzw. einen Unterdialekt des Alemannischen. Leider ist davon, da ich mit knapp fünf Jahren nach Norddeutschland kam, nichts mehr geblieben.

So fehlt mir schon so etwas wie eine immerwährende Heimat und ich musste mich hier im Norden Deutschlands einrichten. Statt einer alemannischen Starrköpfigkeit ist es eben norddeutsche Sturheit, die mich geprägt hat.

Aber das sind nur einige Berührungs- bzw. Anknüpfungspunkte, die mich Walser so nahe halten. Es sind seine kleinbürgerlichen Helden, für die es nach Walsers Erkenntnis „kein Scheitern gibt, sondern immer nur eine Gesellschaft, die einzelne für gescheitert erklärt.“ (S. 130). Es sind seine Romane, „die sich von der Wirklichkeit nichts vormachen [lassen], sie mach[en] vielmehr der Wirklichkeit vor, wie die Wirklichkeit ist. Sie spiel[en] mit der Wirklichkeit …“ Und „es ist die Hoffnung des Verfassers, er sei Zeitgenosse genug, daß seine von der Wirklichkeit ermöglichten Erfindungen den oder jenen wie eigene Erfahrungen anmuten.“ (S. 135). – Mich muten Walsers literarische Erfindungen wirklich oft genug wie eigene Erfahrungen an.

Neuanfang wagen

Vielleicht geht es doch schneller, als gedacht: Sportdirektor Thomas Eichin vom Fußballbundesligisten SV Werder Bremen will nach dem Abgang von Thomas Schaaf den Neuanfang wagen und macht bereits Nägel mit Köpfen. Als Schaafs Nachfolger wünscht er sich Robin Dutt als Cheftrainer, seit dem 1. August 2012 Sportdirektor beim Deutschen Fußball-Bund (DFB) und damit Nachfolger von Matthias Sammer. Der SV Werder und Dutt haben sich bereits an den DFB gewandt und um die Aufhebung des bis Ende 2016 laufenden Vertrages von Dutt gebeten.

Ich denke, Robin Dutt wäre eine gute Wahl, denn: „Er erfüllt alle Kriterien, die wir für einen Neuanfang aufgestellt haben. Er kennt sich bestens im Nachwuchsbereich aus, kann auf gute Talentförderung verweisen und hat in der Bundesliga bereits nachgewiesen, dass er eine solche Aufgabe erfolgreich meistern kann,“ wie Eichin gestern sagte. Dutt war u.a. von 2007 bis 2011 für den SC Freiburg tätig, wo er erfolgreich die Nachfolge des langjährigen Trainers Volker Finke übernahm und den Klub wieder zurück in die Bundesliga führte. Allerdings wurde er als Nachfolger von Jupp Heynckes bei Bayer 04 Leverkusen in der Saison 2011/2012 nicht ganz so glücklich.

    Neuanfang beim SV Werder Bremen

Und es geht weiter: Felix Kroos und Özkan Yildirim bekamen schon vor Tagen eine Vertragsverlängerung, beides durchaus hoffnungsvolle Nachwuchsspieler, die auch schon in der ersten Mannschaft gute Leistungen zeigten. Und jetzt dann auch die Vertragsunterzeichnung mit Nils Petersen, der bisher von Bayern München ausgeliehen war und für angeblich 3 Millionen € an die Weser wechselt. So ganz mein Wunschkandidat ist er zwar nicht, aber angesichts des deutlich geschrumpften Etats bei Werder die dann doch beste Lösung.

Dafür wird wohl Sokratis Werder in Richtung Dortmund verlassen. Bei einem Marktwert von zz. 10 Millionen € und einem Vertrag bei Werder bis 2016 dürfte eine stattliche Ablösesumme fällig werden (angeblich will Dortmund 9 Millionen € zahlen). Die plant man, in einen Nachfolger des Abwehrchefs zu reinvestieren.

Leider wird auch Kevin de Bruyne die Bremer wieder verlassen. Der junge Belgier war für eine Saison vom FC Chelsea (dort bis 2017 unter Vertrag) ausgeliehen. Die Interessenten für ihn rennen bereits in London die Türen ein. So möchten u.a. gern die Borussen aus Dortmund und Bayer Leverkusen den offensiven Mittelfeldspieler an ihre Vereine binden. Nach jetzigen Stand will der FC Chelsea de Bruyne aber behalten und ihn höchstens noch eine weitere Spielzeit ausleihen. So gesehen hätte Werder Bremen sogar noch eine minimale Chance, ihn für dieses eine Jahr an der Weser zu halten. Werder muss auf jeden Fall Kevin de Bruyne dankbar sein. Ohne seine gute Leistung wären die Bremer mit Sicherheit abgestiegen.

Der Trend ist auf jeden Fall eindeutig und würde durch die Verpflichtung von Robin Dutt nur bestätigt werden: Werder Bremen verzichtet zukünftig auf Stars und setzt (fast) voll auf den Nachwuchs. Lediglich Werders Eigengewächs Aaron Hunt, dem man zur Nominierung in die Nationalmannschaft gratulieren darf, wäre der letzte Spieler von internationaler Klasse.

Und was ist mit Elia und Arnautovic? Wenn z.B. Mannschaften der russischen Liga Interesse zeigen, dann sollte man das nutzen. Beide waren und sind unberechenbare Unruheherde in der Mannschaft, die man nach meiner Meinung möglichst für Werder vorteilhaft los werden sollte. Wenn man der Gerüchteküche um Spielertransfers glauben darf, dann zeigt Werder einiges Interesse an neuen, jungen Spielern für die linke und rechte Außenbahn.

Nach der Saison ist bekanntlich vor der Saison. Es tut sich einiges rund ums Weserstadion. Und das tut auch Not. Warten wir ab, was da noch für Überraschungen auf uns Werder-Fans zukommen. Ich weiß auch nicht, warum, aber ich bin guter Dinge …

Thomas Mann & Zauberberg’sche Redensarten

Komme ich heute noch einmal auf Thomas Manns Roman Der Zauberberg zu sprechen. Ich bin in diesem Roman über viele so genannte Redensarten gestolpert, die, obwohl der Roman inzwischen 89 Jahre auf dem Buckel hat, überraschend aktuell sind, d.h. wir verstehen auch heute noch (meist) die eigentliche Bedeutung, die sich hinter einem saloppen Spruch verbirgt. Ich deutet es als ein positives Zeichen, das belegt, dass unser Wortschatz sich eher vermehrt als abnimmt.

So wühlt man sich durch den deutschen Wortschatz

Ich habe mir die Mühe gemacht, viele dieser Redenarten zu sammeln und hier aufzuführen. Wer vielleicht den einen oder anderen Sinn dann doch nicht verstehen sollte, dem sei die Website redensarten-index.de anempfohlen, die vielleicht das ‚Rätsel’ löst. Hier nach einem Stichwort sortiert die gefundenen Redensarten (die Seitenzahl bezieht sich auf die Taschenbuchausgabe Band 800, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main, hier – 193. – 212. Tausend: Februar 1980):

Stichwort – Redensart
Affe – mich laust der Affe (S. 269)
ahnen – Du ahnst es nicht! (S. 315)
alles – Sein ein und alles gewesen sei (S. 686)
Angst – Kann einem angst und bange werden (S. 392)
aufgebrummt – Aufgebrummt (S. 62)
Augen – Dem gehen die Augen über (S. 652)
ausgespien – Er-ledigt …. und ausgespien (S. 597)
Biegen – denn nun geht es auf Biegen und Brechen (S. 640)
Biegen – auf Biegen und Brechen gehe[n] (S. 737)
Binsen – Geht in die Binsen (S. 372)
Binsen – zum Kuckuck gehen, in die Binsen oder vor die Hunde (S. 442)
Blatt – Das unbeschriebene Blatt (S. 40)
Blaue – ins Blaue hinein (S. 628)
Bock – Einen Bock geschossen (S. 662)
Buch – Wie es im Buche stand (S. 512/ S. 524)
dick – Es so dicke hat (S. 432)
dick – Trage dick … auf (S. 664)
Dinge – Den Dingen ihren Lauf lassen (S. 731)
Ehre – Ehre und Misere (S. 729)
ewig – Ewig und drei Tage (S. 18)
Federlesen – Kein Federlesen machen (S. 681)
Fersengeld – Fersengeld geben (S. 463)
Finger – Nicht den kleinen Finger reichen (S. 64)
Finger – Da man dem Teufel nicht den kleinen Finger reichen darf, ohne daß er die ganze Hand nimmt und den ganzen Menschen dazu … (S. 105)
Flinte – Flinte ins Korn werfen (S. 262)
Fuß – auf guten Fuß mit ihm stellen [S. 632)
Fuß – auf Kriegsfuß gestellt (S. 264)
Gedanken – Einen Gedanken nachgehangen (S. 202)
gehen – Wie geht’s, wie steht’s? (S. 387)
Glocke – An die große Glocke gehängt (S. 439)
Gnade – Gnade vor Recht ergehen [lassen] (S. 704)
Gras – Ins Gras beißen (S. 235)
Grund – Er redet … in Grund und Boden (S. 312)
Gurken – Sauregurkenzeit (S. 671)
Haare – Die Haare zu Berge steigen (S. 466)
haben – Hast du was kannst du [was] (S. 262)
Hafer – Stach ihn der Haber [Hafer] (S. 599)
Haufen – Über den Haufen werfen (S. 731)
Hehl – Sich Zwang antun … ein Hehl [daraus] machen (S. 252)
Herzen – Aus seinem Herzen eine Mördergrube machen (S. 251)
Herzen – ist mir ein Stein vom Herzen gefallen (S. 643)
Höhe – Das ist die Höhe! (S. 315)
holterdiepolter – holterdiepolter, über Stock und Stein (S. 269)
holterdiepolter – es geht nachgerade holterdiepolter! (S. 606)
Hund – Kein Hund … vom Ofen locken (S. 731)
Hundert – Vom Hundertsten ins Tausendste kommen (S. 551)
Hut – Auf Ihrer Hut sein (S. 541)
Kauf – In Kauf genommen (S. 285)
Kauf – nahm das in Kauf (S. 290)
Kauf – [etwas] in den Kauf nehmen (S. 615)
Kauf – in den Kauf nehmen (S. 632)
Klipp – Klipp und klar gesagt (S. 262)
Kohlen – Saß wie auf Kohlen (S. 680)
Kopf – Gleich mit dem Kopf durch die Wand (S. 453)
Kopf – Hals über Kopf! (S. 463)
Leber – Was ist dir über die Leber gelaufen? (S. 250)
leibt – Wie sie leibt und lebt (S. 272)
Licht – In einem völlig neuen Lichte erscheinen lassen (S. 251)
Löffeln – Mit Löffeln gegessen (S. 200)
Löwe – Gut gebrüllt, Löwe (S. 236)
lumpen – Sich denn lumpen lassen (S. 214)
Mann – Selbst ist der Mann (S. 441)
Mann – Manns genug (S. 553)
Mark – daß es einem durch Mark und Pfennig geht (S. 617)
Mund – Redete nach dem Munde (S. 377)
Münze – Für bare Münze nehmen (S. 731)
Nase – Drehen [einem] eine Nase (S. 499)
nichts – Mir nichts, dir nichts (S. 60)
nichts – Nichts für ungut! (S. 445)
Ohr – Floh ins Ohr gesetzt (S. 555)
Ohr – Sich die Nacht um die Ohren schlagen (S. 603)
Ohr – Über beide Ohren verliebt sein (S. 613)
Palme – Die Palme glauben reichen zu sollen (S. 165)
Panier – Haben das Panier ergriffen (S. 159)
Pasche – Aus der Pasche ziehen (S. 600)
peinlich – Berührte ihn peinlich (S. 167)
Posten – Auf dem Posten sein (S. 696)
Pudel – wie ein begossener Pudel! (S. 641)
Qual – Tantalusqualen (S. 159)
Rechnung – darin Rechnung tragen (S. 615)
Rockschoß – Hängt sich den Leuten nicht an die Rockschöße (S. 558)
Roß – Vom hohen Roß herunter ( S. 561)
Rücken – [etwas] den Rücken kehren (S. 263)
Schicksal – Dem Schicksal in die Speichen fallen (S. 86)
Schmiede – Vor die rechte Schmiede kommen (S. 159)
Schrot – Von anderem Schrot und Korn (S. 558)
Schürchen – Hatte … am Schnürchen (S.110)
Schweiß – Im Schweiße seines Angesichts (S. 321)
Schwulität – In großen Schwulitäten (S. 653)
Spatzen – Daß der Himmel billig den Spatzen zu überlassen sein (S. 168)
Spatzen – Pfiffen die Spatzen es von den Dächern (S. 549)
Spitz – Sich leicht einen kleinen Spitz oder Zopf daran trinken (S. 610)
Spott – Wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu sorgen (S. 651)
Stange – Bleibe gleich bei der Stange (S. 529)
Tag – Frisch mit dem jungen Tage (S. 42)
Tasche – daß er uns in die Tasche steckt? (S. 626)
Taubenfüße – Nicht auf Taubenfüßen, so auf Adlersschwingen kommen (S. 167)
Tee – Abwarten und Tee trinken (S. 233)
Teufel – In’s Teufels Namen (S. 488)
Wahrheit – Der Wahrheit ins Auge sehen (S. 316)
Wasser – Mit allen Wassern … gewaschen (S. 683)
Weg – Ein Weg, den wir zum ersten Male gehen, ist bedeutend länger als derselbe, wenn wir ihn schon kennen (S. 68)
Weg – ging seines Weges wie ein Mann (S. 617)
Wein – Ihnen reinen Wein einschenken (S. 643)
Wort – Das Wort vom Munde genommen (S. 323)
Würfel – Die Würfel fielen (S. 438)
X – Ein X für ein U [vor-]machen (S. 564)
Zahn – Fühle … ein bisschen auf den Zahn (S. 541)
Zügel – Die Zügel schießen lassen (S. 341)

Pfingsten 2013

Pfingsten, das Fest des Heiligen Geistes, wird unter den Christen genau fünfzig Tage nach Ostern gefeiert. Genau genommen gedenkt man an Pfingsten der Ausgießung des Heiligen Geistes über die zwölf Apostel. Zugleich mit Pfingsten geht auch die Osterzeit zu Ende. Die Apostelgeschichte des Neuen Testaments erzählt, dass der Heilige Geist am fünfzigsten Tag nach Ostern auf die Jünger Jesu herabkam, als sie sich in Jerusalem versammelten. Das Wunder, das dabei geschah, war, dass sie plötzlich in allen Sprachen der Welt kommunizieren konnten.

    Pfingstochsen

Pfingsten, das liebliche Fest, war gekommen: Es grünten und blühten
Feld und Wald; auf Hügeln und Höhn, in Büschen und Hecken
Übten ein fröhliches Lied die neu ermunterten Vögel;
Jede Wiese sprosste von Blumen in duftenden Gründen,
Festlich heiter glänzte der Himmel und farbig die Erde.

Johann Wolfgang von Goethe
aus: Reineke Fuchs1. Gesang

Die Wetteraussichten für dieses Jahr Pfingsten sind gemischt. Zumindest heute am Pfingstsonntag soll es lediglich leicht bewölkt und mit etwas über 20 °C angenehm warm werden. Schon für morgen ist aber wieder leichter Regen angesagt. Auf jeden Fall grünt und blüht es überall. Der Frühling ist längst angekommen. Der Sommer darf dann auch bald kommen.

Thomas Mann: Der Zauberberg

Martin Walser hält seinen Stil für manieriert und meint damit sicherlich das oft genug eitel Affektierte, Gekünstelte seiner Schreibweise. Etwas aufgeblasen war er schon in seinem Bildungsgroßbürgertum. Den „Doktor Faustus“ gab Walser sogar auf, weil er diese Prosa „nicht ertagen konnte“ (Gespräch mit Peter Roos: Genius Loci – in Auskunft, S. 61 – siehe: Jörg Magenau: Martin Walser – eine Biographie, S. 58f.) Ich selbst bin vor Jahren am ‚Tretapak’ Joseph und seine Brüder kläglich gescheitert. Und Bertolt Brecht bezeichnete ihn einen „regierungstreuen Lohnschreiber der Bourgeoisie“. Ich spreche von Thomas Mann.

Im Sommer 1981, ich weilte in Spanien in der Ferienwohnung meiner Eltern und hatte mir als Leküre Thomas Manns Der Zauberberg mitgenommen (den Roman habe ich als Fischer Taschenbuch Band 800, Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main – 193. – 212. Tausend: Februar 1980 vorliegen). Immerhin ein Wälzer von über 750 Seiten (in anderen Ausgaben mit etwas größerer Schrift sind ’s oft 100 Seiten mehr). Und bis zum Ende meines Urlaubs habe ich den Roman tatsächlich geschafft – vielleicht auch, weil ich wegen eines Sonnenbrandes einige Tage die Sonne meiden musste. Jetzt habe ich nach 32 Jahren den Roman ein zweites Mal gelesen.

1912 äußerten Ärzte bei Katia, der Frau von Thomas Mann, den Verdacht auf Tuberkulose, was einen längeren Sanatoriums-Aufenthalt in Davos erforderlich machte. Thomas Mann war, als er sie dort besuchte, beeindruckt von der Atmosphäre des Sanatoriums und fasziniert von den amüsanten Schilderungen, die ihm seine Frau über die Klientel der Klinik gab. Sie inspirierten ihn zu seinem Roman Der Zauberberg, den er 1913 begann, aber erst 1924 vollendete.

Wie bereits an anderer Stelle (Heute Ruhetag (32): Thomas Mann – Der Zauberberg) erwähnt, sollte der Roman „eine Art von humoristischem, auch groteskem Gegenstück“ zum 1912 erschienenen Tod in Venedig werden, geriet dann mit 800 Seiten länger als beabsichtigt. Ohne Zweifel gilt der Roman heute als einer der wichtigsten des 20. Jahrhunderts, beleuchtet er mit Geist und Witz die Atmosphäre am Anfang des letzten Jahrhunderts – vor fast genau 100 Jahren. Er handelt vom Reifeprozess des jungen Hans Castorp. Während eines siebenjährigen Aufenthalts in einem Tuberkulose-Sanatorium trifft Castorp dort Menschen, die ihn mit Politik, Philosophie, aber auch Liebe, Krankheit und Tod konfrontieren.

Im Mittelpunkt – und dann auch wieder nicht – steht also jener junge Hans Castorp, der unheldische Held aus Hamburg, der eigentlich nur seinen Vetter Joachim Ziemßen auf drei Wochen in der Lungenheilanstalt Berghof nahe Davos besuchen wollte. Aus diesen drei Wochen werden dann sieben Jahre. Er lernt dabei u.a. die Russin Clawdia Chauchat kennen und lieben. Es ist eine verwickelte Liebesgeschichte, denn der junge Castorp traut sich erst nicht, Kontakt mit der ‚Kirgisenäugigen’ aufzunehmen, die ihn an einen ehemaligen Schulkameraden erinnert. Erst während einer ausgelassenen Karnevalsfeier kurz vor der unmittelbar bevorstehende Rückreise der Russin nach Daghestan kommen sich die beiden näher. Es beginnt ein jahrelanges Warten. Auch ein Grund, weshalb Castorp als einer ‚Der da oben’ Davos nicht verlassen wird. Clawdia Chauchat kommt zwar eines Tages zurück, aber in Gesellschaft eines Mynheer Peeperkorn, dem ein merkwürdig kruder Vitalitätskult umweht und dem es selten gelingt, seine Sätze zu beenden … Obwohl dieser Peeperkorn sein Konkurrent in der Gunst um die schöne Russin ist, freundet sich Catorp mit diesem an. Für ihn ist Peeperkorn eine faszinierende ‚Persönlichkeit’.

Bis zu dieser Wiederkehr vertreibt sich Castorp seine Zeit mit Gesprächen mit den Antipoden Settembrini und Naphta, die ihn, das „Sorgenkinder des Lebens“, zu ihrem Erziehungsobjekt auserkoren haben. Der eine, der italienische Literat Lodovico Settembrini, ist ein Humanisten, Freimaurer und „individualistisch gesinnter Demokraten“, mit dem der junge Deutsche über philosophische und politische Fragen der Zeit in Berührung kommt. Der andere ist „der asketische Jesuit Naphta, ein zum Katholizismus konvertierter galizischer Jude mit bewegter Vergangenheit. Naphta ist ein brillanter, rhetorisch begabter und sophistischer Logik verpflichteter Intellektueller, von dessen Einflüssen Settembrini seinen jungen Freund Castorp vergeblich fernzuhalten versucht. In anarcho-kommunistischer Tradition strebt Naphta nach der Wiederherstellung des ‚anfänglichen paradiesisch justizlosen und gottesunmittelbaren Zustands’ der Staat- und Gewaltlosigkeit, den letztendlich auf Terrorismus gestützter Gottesstaat.“ (weiteres siehe auch freitag.de und faz.net).

Man braucht schon einen etwas längeren Atem, um sich durch diesen Roman hindurchzukämpfen. Aber es lohnt sich. Die genannte Liebesgeschichte hat ihren ganz besonderen Reiz. Und die Gespräche zwischen dem jungen Castorp und Settembrini, an denen sich dann später auch noch der dunkle Naphta beteiligt, zeugen eine Nachhaltigkeit, die den Leser schon zum Grübeln bringt. Das Ganze ist untersetzt mit einem Ton, der eine Ironie versprüht, der man sich einfach nicht entziehen kann. So sollte der Leser nicht alles zu ernst nehmen. Manchmal ist der Roman (er wurde ja vor 100 Jahren begonnen) in seinen Formulierungen etwas ‚altfränkisch’ – den Begriff verwendet Thomas Mann übrigens selbst. Oft trieft es etwas zu sehr vor lauter Bildungsbürgertum. Und manche Passage auf Französisch oder Italienisch mag vor dem weiteren Lesen abschrecken. Aber keine Angst, man versäumt nicht viel (im längeren französisch und deutsch geführten Gespräch zwischen Castorp und Clawdia Chauchat geht es erst einmal um den Vetter, dann ums ›vous‹ und ›tu‹ – ums Sie und Du -, dann gesteht Castorp seine Liebe – und am Schluss sagt sie: »N’oubliez pas de me rendre mon crayon.« und erinnert ihn daran, nicht zu vergessen, ihr den ausgeliehenen Bleistift zurückzugeben; der Leser wird an dieser Stelle wissen, was es mit dem Bleistift auf sich hat). Aber wer sich traut, ein anspruchsvolles Buch zu lesen, kommt auf seine Kosten.

Der Roman fordert gegen Ende viele Todesopfer. So stirbt Catorps Vetter Joachim Ziemßen, nachdem dieser in wilder Flucht Davos verlassen hatte, um seinen Dienst als Offizier ‚im Flachland’ anzutreten, dort einen Rückfall bekam – und kurze Zeit nach seiner Rückkehr ins Sanatorium der Tuberkulose erlag. Es stirbt auch der Mynheer Peeperkorn und Naphta – beide durch Freitod. Und als nach sieben Jahren Aufenthalt in Davos der erste Weltkrieg ausbricht, kehrt auch Castorp in die Heimat zurück, um als Soldat eingezogen zu werden. Sein Schicksal bleibt ungeklärt. Er wird in Frankreich gefallen sein.

Noch ein kleiner Hinweis. Es geht um den lateinischen Begriff Placet experiri“, der eine erkennbar gewichtige Rolle in dem Roman spielt. Der Ausdruck ist ursprünglich eine wissenschaftliche Randbemerkung Petrarcas. Placet bedeutet ‚Bekundung eines Einverständnisses’ und experiri ist die Infinitivform von experior, also ‚versuchen, erproben’ – grob übersetzt: Bekundung eines Einverständnisses (etwas) zu erproben oder einfacher: Es gefällt, es ist recht, es ist erlaubt – einen (tastenden) Versuch zu machen, zu experimentieren. Settembrini rät Castorp, „vorderhand mit allerlei Standpunkten Versuche anzustellen.“ Es ist also die Aufforderung, Gehörtes geistig zu verarbeiten.

Bilder vom ‚Berghof’
Bilder vom ‚Berghof’

Weitere Empfehlungen zum Nachschlagen:
Hans Castorp – Thomas Manns „Zauberberg“
Literaturlexikon online: Thomas Mann Figurenlexikon: Der Zauberberg (1924)

Erwähnenswert ist sicherlich, dass Thomas Mann, als er 1929 den Nobelpreis für Literatur erhielt, diesen ‚ausdrücklich’ für seinen ersten Roman Buddenbrooks (1901) bekam. ‚Der Zauberberg’ (immerhin bereits 1924 erschienen) wurde allein deshalb nicht erwähnt, weil der Schwede Fredrik Böök, ‚Königsmacher’ im Nobelpreis-Komitee, den Roman nicht mochte und zuvor mehrfach verrissen hatte.

Übrigens wurde der Roman 1981 (da schon zum 2. Mal nach einer TV-Produktion des Sender Freies Berlin in Schwarzweiß unter der Regie von Ludwig Cremer aus dem Jahr 1968) in der Regie von Hans W. Geißendörfer in einer deutsch-französisch-italienische Koproduktion in einer 2½ Stunden langen Version für die Kinos – die dreiteilige Fernsehfassung war mehr als doppelt so lang – verfilmt. Die TV-Langfassung Thomas Mann: Der Zauberberg – Der komplette 3-Teiler kommt am 7. Juni in den Handel. Darsteller sind unter anderem Christoph Eichhorn als Castorp, Rod Steiger als Peeperkorn, Marie-France Pisier als Clawdia Chauchat, Hans Christian Blech als Hofrat Behrens, Flavio Bucci als Settembrini und Charles Aznavour als Naphta.


Der Zauberberg (1981)

Siehe auch meine Beiträge:
Thomas Mann: Felix Krull und die HomosexualitätHerr Albin in Thomas Manns „Zauberberg“Thomas Mann: Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull

Schaaf geht

Am Ende war es dann doch überraschend: Fußball-Bundesligist Werder Bremen und Thomas Schaaf gehen seit gestern ‚einvernehmlich’ getrennte Wege. Der 52-Jährige, seit 1972 im Verein und seit 1999 Cheftrainer der Bundesligamannschaft, wird auf eigenen Wunsch nicht mehr beim Auswärtsspiel beim 1. FC Nürnberg auf der Bank sitzen. Die Betreuung der Mannschaft in den letzten beiden Wochen der Saison übernehmen Schaafs bisherige Co-Trainer Wolfgang Rolff und Matthias Hönerbach. Damit geht eine 14 Jahre währende Ära zu Ende. Schaaf, dessen Karriere als Chefcoach an der Weser 5119 Tage dauerte und damit nur unwesentlich kürzer als die von Werders Trainer-Dino Otto Rehhagel (5202) war, hatte sich gestern Morgen von den Spielern und seinen Trainerkollegen verabschiedet und seinen Arbeitsplatz verlassen.

Natürlich musste man sich zuvor fragen, wie es nach dieser vermurksten Saison weitergehen soll. Und auch die Frage, ob Schaaf weiterhin Cheftrainer bleiben soll, konnte nicht vom Tisch gewischt werden. „Wir haben in den vergangenen Tagen unsere sportliche Entwicklung analysiert und sind zu dem Schluss gekommen, dass wir einen Neuanfang wagen wollen.“, sagte Sportdirektor Thomas Eichin auch im Namen seiner beiden Geschäftsführerkollegen Klaus Filbry und Klaus-Dieter Fischer. Einen Neuanfang ohne Thomas Schaaf.

    Thomas Schaaf – improvisierte Pressekonferenz

Jetzt lautet die Frage natürlich: Wenn ohne Thomas Schaaf, mit wem aber dann?

Ein Blick zurück? Eigentlich begann die Saison 2012/2013 vielversprechend. Werder gewann den Liga total!-Pokal gegen Bayern München und Borussia Dortmund und zeigte alte Tugenden – den Dran nach vorn. Der angestrebte Umbruch schien auf gutem Weg: neuer Wind wehte im Werder-Segel. Aber schon bald ließ man viele Punkte liegen und erreichte zur Halbzeit nur den 12. Tabellenplatz, immerhin mit 10 Punkten Vorsprung auf den 16. Tabellen-, den Relegationsplatz. Die angekündigte Aufholjagd wurde aber schon bald im Keim erstickt. Und da war dann zuvor auch noch der Abschied von Klaus Allofs, Sportdirektor und Vorsitzender der Geschäftsführung, und sein Wechsel nach Wolfsburg.

    Nach Allofs geht jetzt Schaaf – ein Neubeginn bei Werder?

Thomas Schaaf war plötzlich dort, wo er vor 14 Jahren begann, als schon einmal der Abstieg drohte. Was war geschehen und welchen Anteil hatte Thomas Schaaf an diesem Niedergang? Es ist müßig, die Ursachen zu ergründen. Viele individuelle Fehler von einzelnen Spieler sorgten für zu viele Gegentore. Arnautovic, in der Hinrunde endlich auf einem guten Weg, wollte es jetzt besonders gut machen – und machte so ziemlich alles falsch. Zudem verfiel er wieder in die alte Agonie. Und Elia, sein Kumpel aus alten Zeiten beim FC Twente, kam erst gar nicht in Gang. Die Suspendierung der beiden durch Schaaf kurz vor Saisonende spricht Bände. Ist die Mannschaft einmal verunsichert, fehlt ihr das nötige Selbstvertrauen, dann läuft einfach nicht mehr viel zusammen. Hier gelang es Thomas Schaaf nicht ausreichend, die Spieler zu motivieren. Und plötzlich fehlte ihm auch das notwendige ‚glückliche Händchen’, das er früher immer wieder bei der Aufstellung oder bei Einwechselungen hatte. Manche Anfangsaufstellung erwies sich sogar als gehöriger Schuss nach hinten. Der mächtige Geschäftsführer Fischer hatte vor Tagen bereits den Finger in die Wunde gelegt. „Wir haben es nicht geschafft, an die Europa League heranzurücken. Wir sind nicht glücklich mit den Einkäufen der letzten Zeit. Und nicht mit der Zuführung junger Spieler in den Profi-Kader. All das müssen wir diskutieren.“ Werder wird sich keine teuren Neueinkäufe leisten können. So müssen junge Spieler aus dem eigenen Nachwuchs an die 1. Mannschaft herangeführt werden. Das ist Thomas Schaaf nur ansatzweise gelungen. Auch ist aufgefallen, dass Schaaf in letzter Zeit viel lamentierte und nur wenig Konkretes aussagen konnte.

Die Trennung ist ‚einvernehmlich’, eben ‚werder-like’. Schaaf und Allofs haben viel dazu beigetragen, dass der SV Werder über die Region hinaus viele Anhänger hinter sich versammeln konnte. Werder stand unter ihrer Aufsicht für attraktiven Angriffsfußball, aber auch für Fairness, Toleranz und einem guten Einvernehmen mit den Fans. Wenn Schaaf jetzt geht, freiwillig geht, so ist es auch seine Frustration, die der jahrelange Kampf mit ‚Problemspielern’ (eben Arnautovic, Elia u.a.) mit sich bringt. Und wenn man Schaaf jetzt gehen lässt, dann eben auch wegen der Einsicht, dass genau diese Problemspieler nicht auf die Straße gesetzt werden können, sie binden immerhin noch Kapital, sondern dass weiterhin der Versuch unternommen werden muss, sie in die Mannschaft zu integrieren. Diese Differenz zwischen Wollen (bei Schaaf) und Müssen (bei der Vereinsführung) dürfte mit einer der Gründe für die Gehen von Thomas Schaaf sein.

Wer den Abschied von Thomas Schaaf begrüßt, sollte dann auch eine Alternative zu ihm nennen. Genau das ist jetzt der Punkt. Wer soll, kann und wird sein Nachfolger bei Werder Bremen als Cheftrainer werden? Als Nachfolger wurden Mehmet Scholl und Holger Stanislawski (1. FC Köln), die beide allerdings bereits abgesagt haben sollen, Stefan Effenberg, Norbert Meier (Fortuna Düsseldorf), Ralph Hasenhüttl (VfR Aalen) und sogar Felix Magath gehandelt. Für mich käme auf dem ersten Blick nur Norbert Meier in Frage. Fortuna Düsseldorf droht noch die Relegation gegen den 3. der 2. Liga, 1. FC Kaiserslautern. Bis dahin wird Norbert Meier den Rheinländern die Stange halten wollen. Gegen Meier, der jahrelang für den SV Werder gespielt hat (alte Rehhagel-Schule!), spricht die Aussage des Sportdirektors Thomas Eichin: „“Es wird ein Trainer von außen kommen, einer, der hier nicht jeden Stein kennt“.

Ich selbst habe Thomas Schaaf (und damals auch Klaus Allofs – allein schon wegen vieler Fehleinkäufe, die beide zu verantworten hatten) öfter kritisiert. Mir war aber dabei immer klar, dass ich ihn nicht ‚in die Wüste’ schicken kann, wenn ich nicht einen geeigneten und vor allem besseren Nachfolger benennen kann. Dieser muss nämlich auch zu Werder passen. Magath, nur als Beispiel, hat sich da vor Jahren als völlig ungeeignet erwiesen (aber nicht nur in Bremen). Da das Kind nun einmal in den Brunnen gefallen ist, ein Nachfolger für Thomas Schaaf gefunden werden muss … da könnte mir der Name Ralph Hasenhüttl, der den VfR Aalen in die 2. Liga und dort auch gleich auf einen guten Platz im Mittelfeld geführt hat, plötzlich gefallen. Angesichts roter Zahlen auf Werders Bankkonten wäre dieser wohl auch finanziell tragbar. Aber genug: Lassen wir uns überraschen und hoffen zunächst auf ein gutes Saisonende im Spiel am Samstag in Nürnberg.