Archiv für den Tag: 7. Februar 2012

Jirí Gruša: Franz Kafka aus Prag

Während das Werk von Franz Kafka übersichtlich ist, lässt sich die Sekundärliteratur zu Kafka kaum noch fassen. Viele namhafte Autoren haben sich mit Kafka beschäftigt, von Albert Camus über Elias Canetti bis hin zu Martin Walsers Dissertation, mit der dieser 1951 in Tübingen promovierte: Martin Walser: Beschreibung einer Form – Versuch über Franz Kafka

Ein Grund dürfte die Bandbreite der Interpretationsmöglichkeiten des Kafkaschen Werkes sein, wie ich ansatzweise in Frank Kafka: Der Prozess angedeutet habe. Und wer es noch nicht weiß: Es gibt ein auf Kafka bezogenes Adjektiv im deutschen Wortschatz, das selbst der Duden zugelassen hat, und das soviel wie „in der Art der Schilderungen Kafkas, auf rätselhafte Weise unheimlich, bedrohlich“ bedeutet: kafkaesk!

Mir ist jetzt wieder ein Buch in die Hand gefallen, das aus der Sekundärliteratur für mich herausragt. Es ist zwar vom Format groß, von der Seitenzahl aber eher klein. Es enthält überwiegend Fotos und kleine Anmerkungen des Autors, sowie Texte von Kafka – und ist leider nur noch im Antiquariat erhältlich: Jiří Gruša: Franz Kafka aus Prag.

„Vielerlei Faktoren bestimmen Leben und Werk eines Künstlers – solche, die sich in der Biographie aufzeigen und im gesamten Schaffen analysieren lassen, und solche, die im Bild dokumentiert oder nachgewiesen werden können. Entscheidend ist die Umwelt, in die er hineinwächst, die Stadt. Sie hat er anzunehmen oder abzulehnen, ihr Altes und ihr Neues, ihr Selbstverständliches und ihr Außergewöhnliches. Er hat sich zu stellen oder sich zurückzuziehen, die Herausforderung der Enge zu akzeptieren und alle Wege zu beschreiten oder zu resignieren.

Jirí Gruša: Franz Kafka aus Prag

Franz Kafka - Unterschrift

Der 'Graben', die Fortsetzung der Ferdinandstraße, Photographie, um 1890
Der ‚Graben‘, die Fortsetzung der Ferdinandstraße, Photographie, um 1890

Prag hat, als Franz Kafka dort zur Welt kommt, noch immer fünf Viertel, obwohl das Tor zum fünften, zum Ghetto, schon lange freigegeben ist, doch niemand, der dort aufgewachsen ist, kann leugnen, daß es ein Stück von ihm bleibt. Und der Wunsch, von dort herkommend, das ‚Schloß’ zu erobern, dem Anderen zustreben zu können, weitet sich bis ins Schmerzliche. Wer aber an der Schwelle geboren ist wie Franz Kafka, wer um beide Seiten weiß, muß zum Mittler werden zwischen allen Zeiten.

Jiří Gruša hat Fotos der Stadt, wie Franz Kafka sie gesehen hat, und Aufnahmen von heute [Anfang der 80er Jahre] einander gegenübergestellt, hat ihnen Zitate und Beschreibungen zugeordnet und so ein Spannungsfeld geschaffen zwischen damals und jetzt. Kafkas Sicht seiner Welt wird in der Gegenwart abbildbar – seine Erfahrung wird unsere Erfahrung.“
(aus dem Klappentext – 1983 S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main – ISBN 3-10-028603-0)

Jiří Gruša, 1938 in Pardubice geboren, studierte Philosophie, Literaturgeschichte und Geschichte an der Karls-Universität in Prag. Als Literat trat Gruša in den 1960er Jahren in Erscheinung. Er publizierte gemeinsam mit weiteren jungen Schriftstellern, darunter Václav Havel, in der 1963 mitbegründeten Zeitschrift Gesicht (Tvář), der ersten nichtkommunistischen Zeitschrift im Lande. Als er eine kritische Abrechnung mit der stalinistischen Poesie der 50er Jahre veröffentlichte, wurde das ‚Gesicht’ zwangsweise eingestellt. Gruša übertrug Rilke, Celan und Kafka ins Tschechische; er schrieb Lyrik und Prosa. 1968 beteiligte sich Gruša gemeinsam mit anderen Intellektuellen am Prager Frühling, er unterzeichnete die Charta 77. 1981 wurden ihm die tschechoslowakischen Bürgerrechte aberkannt, im Frühjahr 1982 wurde Jiří Gruša aus Prag ausgebürgert; zwei Jahre später erhielt er die deutsche Staatsangehörigkeit. Nach der samtenen Revolution wurde Gruša zum tschechischen Botschafter in Deutschland ernannt. Von Juni bis November 1997 war er tschechischer Bildungsminister, von 1998 bis 2004 Botschafter in Österreich. Von 2004 bis 2009 bekleidete er die Funktion des Präsidenten des internationalen P.E.N.-Clubs. Bis zu seinem Tod Ende 2011 lebte er mit seiner deutschen Frau bei Bonn. Nur kurze Zeit nach Gruša starb übrigens Václav Havel.


Geburtshaus von Franz Kafka in Prag mit Gedenktafel (heute: Námestí Franze Kafky)

„Jetzt, am Sonntagmorgen, waren die meisten Fenster besetzt, Männer in Hemdärmeln lehnten dort und rauchten oder hielten kleine Kinder vorsichtig und zärtlich an den Fensterrand. Andere Fenster waren hoch mit Bettzeug angefüllt, über dem flüchtig der zerraufte Kopf einer Frau erschien. Man rief einander über die Gasse zu, ein solcher Zuruf bewirkte gerade über K. ein großes Gelächter. Regelmäßig verteilt befanden sich in der langen Straße kleine, unter dem Straßenniveau liegende, durch ein paar Treppen erreichbare Läden mit verschiedenen Lebensmitteln. Dort gingen Frauen aus und ein oder standen auf den Stufen und plauderten. Ein Obsthändler, der seine Waren zu den Fenstern hinauf empfahl, hätte, ebenso unaufmerksam wie K., mit seinem Karren diesen fast niedergeworfen. Eben begann ein in besseren Stadtvierteln ausgedientes Grammophon mörderisch zu spielen.“
Kafka: Der Prozess

Hier beschreibt Kafka eine Szene in Prag, wie sie am Anfang der 20. Jahrhunderts in jeder Großstadt hätte geschehen können. Die Leute schauen am Sonntagmorgen aus den Fenstern, unterhalten sich, und von irgendwo dröhnt ein Grammophon. Wie typisch für Kafka, so ist auch diese kleine Szene so bildhaft. Und wenn man dann vielleicht noch ein Foto aus jener Zeit sieht, so taucht man förmlich in diese Szene ein.

Franz Kafka hatte ein ganz besonderes Verhältnis zu Prag, seinem Geburts- und Wohnort. Die Stadt bildet oft genug den Rahmen für seine Erzählungen und Romane. Aber die Stadt war noch mehr. Kafka fühlte sich von Prag gefangen. Die Stadt lässt ihn nicht los. Sie ist wir ein Tier, das sich ihn zum Spielball auserkoren hat. Erst als Kafka schwer erkrankt, „läßt die ‚verdammte Stadt’ K. los. Er ist auf freiem Fuß, der Prozeß jedoch hat schon begonnen. K. aber glaubt, Gott habe ihm die Krankheit geschickt, weil er ohne sie von Prag nie losgekommen wäre.“ (S. 100)

Siehe auch radiobremen.de: Franz Kafka – Auf Spurensuche in Prag