Die Blätter verfärben sich, Blüten verwelken. Die Blumenpracht im Garten nimmt nach und nach ein Ende. Und der November steht vor der Tür, der wohl am wenigsten beliebte Monat des Jahres, der meist grau in grau wolkenverhangen kaum Licht ins Haus bringt. Dafür (wie jetzt in Nordamerika) fällt meist der erste Schnee, Sturm fegt uns Nässe um die Ohren.
Aber noch ist es nicht ganz soweit. Die nächste Tage versprechen durchaus milde Temperaturen, auch die Sonne soll sich zeigen. Genießen wir noch einmal den Herbst mit all seinen satten Farben.
Der neue Eco ist auf dem Markt. Der neue Roman von Umberto Eco heißt Der Friedhof in Prag und handelt von der ‚Entstehungsgeschichte’ der „Protokolle der Weisen von Zion“ – das wahrscheinlich weitest verbreitete Buch der Welt nach der Bibel … -, die Grundlage einer angeblichen Weltverschwörung der Juden sind. Adolf Hitler bezog sich als Rechtfertigung für die so genannte Endlösung der Judenfrage auf diese Protokolle – und auch die Hamasberuft sich auf diese in Artikel 32 ihrer Charta, um ihren Kampf gegen Israel zu begründen.
Nun Verschwörungstheorien, welcher Art auch immer, sind bei Eco nicht neu. In „Der Name der Rose“ geht es um ein Exemplar des verlorengegangenen „Zweiten Buches der Poetik“ des Aristoteles, in dem die Komödie behandelt wird (nach der Tragödie im ersten), ein für das Christentum gefährliches Buch, denn „Lachen töte die Furcht, ohne die es keinen Glauben geben könne. Wer den Teufel nicht mehr fürchte, brauche keinen Gott mehr: dann könne man auch über Gott lachen.“
In „Das Foucaultsche Pendel“ werden gleich verschiedenen Verschwörungstheorien kombiniert. Es geht um Tempelritter, Kabbalisten, den Heiligen Gral und um ein Dokument, das „einen Geheimplan der Tempelritter enthalte, mit dem sie erstens die Weltherrschaft erringen und sich zweitens für all das Unrecht rächen wollten, das sie bei der Auflösung des Ordens zu Beginn des vierzehnten Jahrhunderts erlitten hätten.“
Und in „Baudolino“ spielt neben der Legende vom Reich des Priesters Johannes der Heilige Gral auch eine gewisse Rolle – und damit die Vorstellung von Unsterblichkeit und Macht. Legenden und Verschwörungen allenthalben.
Zurück zum neuen Werk von Umberto Eco: Im Roman ist von einer Versammlung auf dem Friedhof von Prag die Rede, auf der Vertreter der 12 Stämme Israels die Fortschritte bei dem Plan zur Eroberung der Welt besprechen: alles gesammelt in den angesprochenen Protokollen! Alles ist aber nur ausgedacht … Fiktion, wie allerdings auch die Hauptfigur des Romans, Simone Simonini. Dafür stimmen aber (fast) alle anderen Personen und Bezüge im Buch.
Umberto Eco: Der Friedhof in Prag
siehe auch: Die Macht der Dummen (Interview mit Umberto Eco)
„Streng gehütete Geheimnisse des französischen Militärs sind an das Deutsche Reich verraten worden, und die Geheimdienste glauben sofort zu wissen: Das kann nur der jüdische Hauptmann Alfred Dreyfus gewesen sein. Zur gleichen Zeit ziehen Die Protokolle der Weisen von Zion immer weitere Kreise, jenes gefälschte ‚Dokument’ für die ‚jüdische Weltverschwörung’, das fatale Folgen haben wird.
Simone Simonini, ein Italiener in Paris und leidenschaftlicher Antisemit, weiß mehr von dieser gefährlichen Geschichte als jeder andere. Simonini ist wahrlich eine anrüchige Figur, steht mal bei der einen, mal der anderen politischen Macht im Dienst, bewegt sich geschickt zwischen Jesuiten und Freimaurern, Republikanern und Antiklerikalen, Bonapartisten und russischen Spionen. Dann aber sieht er sich immer tiefer verstrickt in die geheimen Pläne einer Verschwörergruppe, die mit einem Attentat auf die gerade im Bau befindliche Pariser Métro die Bevölkerung aufrütteln will, mit einem Attentat auf das große Symbol der modernen Zeit und der modernen Technik. Und die Bombenbauer haben ausgerechnet Simone Simonini erwählt, die Tat auszuführen. Nach einigem Zögern sagt er zu.
Umberto Eco hat einen Roman geschrieben, wir nur er es kann: Eine Geschichte, die tief in die Vergangenheit eindringt, und doch immer auch von unserer Gegenwart erzählt.“
„Ein Abt, der zweimal stirbt, ein paar unbekannte Tote im Pariser Abwasserkanal, geheime Militärpapiere und angebliche Verräter: das Paris der Belle Époque ist eine brodelnde Stadt, in der Geheimbünde und Verschwörer, Freimaurer und Antisemiten, Spione und Geheimpolizisten ihr dunkles Spiel treiben. […]“
(aus dem Klappentext zu Umberto Eco: Der Friedhof in Prag – Roman – Deutsch von Burkhart Kroeber – Carl Hanser Verlag München – 1. Auflage 2011)
Impasse Maubert (von der Rue Frédéric Sauton aus)
Rue Maître-Albert (in der Nähe des Boulevard Saint German)
Simone Simonini, die Hauptfigur des Romans und der Verfasser der Tagebücher, die Grundlage des Romans sind, schreibt diese Tagebücher in einer Doppelwohnung in Paris, von wo aus er auch operiert (und in welchem Haus im Keller in einem Zugang zum Abwasserkanal sich die Leichen ansammeln). Die Adresse wird genannt:
„Am Ende machte der Korridor einen Knick nach rechts […], das das Licht aus einer Straße hereinfiel, die nicht die enge Impasse Maubert sein konnte. Und tatsächlich, als ich an eines der Fenster trat, sah ich, dass es die Rue Maître-Albert war.“ (S. 32)
Rue Maître-Albert auf der Höhe der Impasse Maubert
Umberto Ecos neuer Roman ist ziemlich überfrachtet. Fürs Hamburger Abendblatt enthält er „zu viel des Bösen“. Und die Süddeutsche Zeitung verlangt ein Extra-Studium, „denn der historische Hintergrund ist nur mit Begleitliteratur verständlich“. Außerdem wäre der ‚Friedhof in Prag’ „als Roman bestenfalls ein Fehlschlag von Rang“. „Und die eigentliche Geschichte ist langweilig.“ (Quelle: sueddeutsche.de)
Langweilig finde ich den Roman nun nicht gerade, allerdings schon für reichlich verwirrend. Eco versucht akribisch alle Fakten, die für die Geschichte notwendig erscheinen, vorzutragen und gerät dabei vom Hundertsten ins Tausendste. Und da alles aus der Sichtweise des Simone Simonini, einen von Neurosen zerfressenen, hasserfüllten Egoisten, einen gierigen, skrupellosen Gourmand (abendblatt.de), geschrieben ist, fragt man sich als Leser oft, ob man sich noch ‚im richtigen Buch’ befindet. Obwohl der Romanheld dermaßen negativ besetzt ist, versucht man sich als Leser in ihn hineinzuversetzen – und erzeugt so etwas wie Sympathie für ihn, für den eigentlich wirklich keine Sympathie zu bezeugen ist. Trotzdem bietet der Roman, auch ohne vertiefte Kenntnisse, einen gelungenen Einblick in die Wirren des 19. Jahrhunderts. Es sind eher die Wirren der Zeit als die des Romans.
Auf jeden Fall gibt der Roman viel Stoff zum Nachdenken. Hier einige Beispiele, z.B. wenn der Großvater von Simon Simonini, einen Antisemiten erster Klasse, sagt: „Der sich selbst überlassene Mensch ist zu schlecht, um frei zu sein. Das bisschen Freiheit, das er braucht, muss durch einen Souverän garantiert sein.“ (S. 61) Manchmal bin ich versucht, dem zuzustimmen.
Simon Simonini selbst erkennt: „Ich habe immer Leute gekannt, die fest daran glaubten, dass irgendwelche verborgenen Feinde eine große Verschwörung planen, […] wer weiß, wie viele andere Leute es noch auf dieser Welt gibt, die sich von einer Verschwörung bedroht fühlen. Hier haben wir eine Form, die jeder nach Belieben mit einem Inhalt füllen kann. Jedem sein Komplott. […] Wonach strebt jeder, und zwar umso mehr, je elender und vom Glück verlassener er sich fühlt? Nach Geld, und zwar leicht verdientem, nach Macht (was für eine Lust, einen deinesgleichen herumkommandieren und erniedrigen zu können!) und nach Rache für erlittenes Unrecht (und jeder hat mindest einmal im Leben ein Unrecht erlitten, so klein es auch sein mag). […] Warum, so fragt sich ein jeder, warum bin gerade ich vom Glück benachteiligt (oder zumindest nicht so begünstigt, wie ich es wollte), warum sind gerade mir Belohnungen vorenthalten worden, die weniger Verdienstvolle erhalten haben? Weil niemand auf den Gedanken kommt, dass seine Missgeschicke mit seiner eigenen Beschränktheit zu tun haben könnten, deshalb muss jeder einen Schuldigen finden.“ (S. 94f.)
Bis zum heutigen Tag hat diese Aussage Gültigkeit, wenn es heute vielleicht auch nicht mehr die Juden sind, denen man die schlimmste Weltverschwörung zutraut, sondern (aus Sicht nicht nur der Rechtsextremen) die Islamisten, Araber, Moslems – alle hinein in einen Sack und draufgeschlagen!
Oder Lagrange vom französischer Geheimdienst – er beschreibt gewissermaßen auch die Arbeit des Verfassungsschutzes unserer Tage: „… die einzigste Art, eine subversive Sekte zu kontrollieren, ist, ihre Führung zu übernehmen […] von zehn Mitgliedern einer Geheimorganisation seien drei unsere mouchards [Informanten] […], sechs seien vertrauensselige Dummköpfe und einer sei gefährlich.“ (S. 202)
Jedem sein Komplott, jedem sein Feind: „Damit der Feind erkennbar und furchterregend ist, muss er im Hause sein oder jedenfalls an der Schwelle des Hauses. […] Wir brauchen einen Feind, um dem Volk eine Hoffnung zu geben. Jemand hat gesagt, der Patriotismus sei die letzte Zuflucht der Kanaillen – wer keine moralischen Prinzipien hat, wickelt sich gewöhnlich in eine Fahne, und die Bastarde berufen sich stets auf die Einheit ihrer Rasse. Die nationale Identität ist die letzte Ressource der Entrechteten und Enterbten. Doch das Identitätsgefühl gründet sich auf den Hass, Hass auf den, der nicht mit einem identisch ist. Daher muss man den Hass als zivile Leidenschaft kultivieren.“ So spricht Ratschkowski im Roman, Mitglied der Ochrannoje Otdelenie, Sicherheitsabteilung, der Dienst für vertrauliche Nachrichten, des russischen Innenministeriums (S. 401)
Entgegen früherer Vorsätze, hegt Umberto Eco diesmal durchaus pädagogische Absichten. Nur ob die greifen, glaube ich nicht. Wer aus dem rechten Spektrum wird seinen Roman lesen? Und wenn, wer wird sich schon vom Besseren belehren lassen?! Mir hat der Roman auf jeden Fall sehr gut gefallen. Umberto Eco ist einfach eine ‚Marke für sich’ und er ist mehr noch als ein Dan Brown für Intellektuelle.
Wie steht es eigentlich um den Lokführerstreik der GDL bei der metronom Eisenbahngesellschaft mbH? Am 30.08.2011 übernahm Herr Prof. Georg Milbradt, ehemaliger Ministerpräsident des Freistaates Sachsen, auch für die Verhandlungen zwischen GDL und Metronom die Schlichtung. Die Friedenspflicht von acht Wochen, in der nicht gestreikt werden darf, ist Mitte dieser Woche ausgelaufen.
Die letzte Meldung der Metronom-Website verkündet – ganz schlicht:
„Sehr geehrte Fahrgäste,
die Tarifvertragsparteien haben sich auf ein Schlichtungsverfahren geeinigt.
Herr Prof. Georg Milbradt übernahm am 30.08.2011 die Schlichtung.
Das Schlichtungsverfahren läuft voraussichtlich noch bis Ende November 2011.
Ihr metronom Team“
Das kann nur heißen, dass man sich auch nach acht langen Wochen nicht einig geworden ist – und noch einmal vier Wochen dranhängt. Ich will nicht unken, aber mir kommt es so vor, als wenn ein weiterer Streik der GDL beim Metronom noch lange nicht aus der Welt ist. Schauen wir nur weiter Richtung Norden. Bei der Nord-Ostsee-Bahn, die nicht an der Schlichtung teilnimmt, wird weiterhin (mit Unterbrechungen seit Februar) gestreikt.
Schlichter, GDL und die an der Schlichtung beteiligten Bahnunternehmen haben offensichtlich Stillschweigen über eventuelle Zwischenergebnisse vereinbart, denn in den Medien wird lediglich vermeldet:
„Bundesweit liefen derzeit vier Schlichtungen, darunter im Norden bei AKN und Metronom […]. Bei der AKN und dem Metronom dauerten die Schlichtungsgespräche an.“ (Quelle: abendblatt.de). Warum das im Präteritum, in der Vergangenheitsform, geschrieben steht, weiß nur der Schreiber. Vielleicht will er der Hoffnung Ausdruck verleihen, dass dieser unselige Streik schließlich ein Ende findet (fand).
Ein Streik der Lokführer in der Vorweihnachts- und damit kalten Herbst- und Winterzeit wäre genau das, was wir Pendler gebrauchen können. Hoffen wir, das die Vernunft obsiegt und die Vertragspartner eine Lösung finden. Ansonsten soll sie der Teufel holen …!!!
Heute Abend läuft der letzte Teil der insgesamt 6-teiligen Historienreihe Borgia (Gemeinschaftsproduktion Tschechien/Deutschland/USA 2011) im ZDF. In der ZDFmediathek sind alle (anderen) Teile zz. auch online zu sehen. Ich selbst habe mir die am Ende 600 Minuten dauernde TV-Reihe allein schon aus Zeitgründen nicht angeschaut. Dafür habe ich aber den gleichnamigen Roman von Klabund gelesen: Borgia
„‚Roman einer Familie’ nannte Klabund dieses fesselnde und brillant geschriebene Buch. Die ‚Familie’ ist das berühmt-berüchtigte Adelsgeschlecht der Borgia, das zeitweise ganz Italien und in der Person zweier Päpste das ganze Abendland unter seine Herrschaft zwang. Grausamkeit und Verschlagenheit, die absolute Unbedenklichkeit in der Wahl der Mittel halfen ihnen, ihre Macht zu festigen und auszuweiten.
Mord an den nächsten Verwandten, Liebe als Machtspiel, Blutschande zwischen Vater-Papst Alexander VI. und seinen Kindern bezeichnen die Maßlosigkeit im Leben der Borgia.
Giftkelch und Meucheldolch regieren unangefochten. Doch auf diesem Gipfel der Macht fallen die Borgia ihnen selber zum Opfer.“
„Klabund, eigentlich Alfred Henschke, wurde 1890 in Crossen a. d. Oder geboren. Nach dem Studium der Literatur und Philosophie in München und Lausanne lebte er als freier Schriftsteller in München, Berlin und in der Schweiz.
Er war ein ungestümer, aufsässiger Mensch, der sich in viele Skandale verwickelte, erotische Themen bevorzugte, wenig Freunde hatte – bis auf Gottfried Benn.
Der Roman Borgia erschien zum ersten Mal nach Klabunds Tod im Jahre 1928.“
Aus dem Klappentext zu Klabund – Borgia – Roman einer Familie – Fischer Taschenbuch Verlag – 16. – 20. Tausend: August 1980
Natürlich dürfte sich die TV-Serie kaum mit diesem kleinen Büchlein von gut 100 Seiten vergleichen lassen. Die Bezeichnung Roman ist sicherlich nicht ganz richtig, nicht ausreichend. Es ist eine Erzählung in Episoden verfasst, die gleichsam Dialoge wie in einem Theaterstück und Szenen wie in einem Film enthält. Schon allein daraus ergibt sich eine besondere Spannung. Im Mittelpunkt stehen natürlich die Borgias, vor allem Rodrigo Borgia, der als Papst Alexander VI. in die Geschichtsbücher einging, Cesare Borgia, der Niccolò Machiavelli als Vorbild für seinen Il Principe („Der Fürst“), den rücksichtslosen Machtpolitiker, diente, und Lucrezia Borgia, die oft als Instrument der Politik ihres Vaters herhalten musste. Daneben spielt Fra Girolamo Savonarola aus Ferrara in dem Roman eine größere Rolle, Savonarola, der von Florenz aus mit seiner Kritik am Lebenswandel des herrschenden Adels und Klerus, hier besonders an dem Papst, den er bezichtigte, der Antichrist zu sein, für Aufsehen sorgte – und nachdem er von Papst Alexander VI. als ‚Häretiker, Schismatiker und Verächter des Hl. Stuhles’ exkommuniziert wurde, vor einer riesigen Menschenmenge auf dem Scheitelhaufen landete. Aber auch der Florentiner Bildhauer und Maler Michel Angelo erscheint in einem Treffen mit Lucrezia Borgia und malt sie als „Leda vom Schwan geliebkost. [Als] Venus von Amor geliebkost.“ (S.74). Und der Christus in der römischen Pietà, „trägt er nicht die Züge jenes in Florenz verbrannten Fra Girolamo – jenes unseligen Ketzers –“? (S. 74). Natürlich treffen wir in dem Buch auch Cesare Borgia im Gespräch mit Niccolò Machiavelli.
Klabund („KLAbautermann und VagaBUND“) gelingt mit Borgia„ein grausiger Alptraum von Macht und Schicksal, Mord und Blutschande.“ „Marcel Reich-Ranicki nannte ihn – vielleicht mit Bedauern – vierzig Jahre nach Klabunds Tod »nur noch eine literarhistorische Erscheinung«. Inzwischen kann Klabund allerdings neu entdeckt werden, denn er wird in der ganzen Breite seines Schreibens wieder zugänglich gemacht: Im kleinen Heidelberger Eifenbein-Verlag liegt eine achtbändige Lese- und Studienedition der Werke Klabunds nach dem Text der Erstdrucke vor.“ (aus: KLABAUTERMANN UND VAGABUND: Eine Einführung von Christian von Zimmermann).
Hermann Hesse widmete sich in seinem Tun und literarischem Schaffen dem Individuum. Seine Romane, Erzählungen und Gedichte haben immer wieder die Selbstverwirklichung, die Selbstwerdung, die Autoreflexion des einzelnen zum Thema. Im Glasperlenspiel nun findet das individuelle Leben in eine überpersönlichen Gemeinschaft seine Einordnung. Obwohl es hier um eine streng hierarchisch geordnete Gesellschaft geht, so ist diese zutiefst human und lässt dem Einzelnen die Wahlmöglichkeit.
Aus diesem Roman stammt das wohl von Hesse bekannteste Gedicht: Stufen.
Wie jede Blüte welkt
und jede Jugend dem Alter weicht,
blüht jede Lebensstufe,
blüht jede Weisheit auch und jede Tugend
zu ihrer Zeit und darf nicht ewig dauern.
Es muss das Herz bei jedem Lebensrufe
bereit zum Abschied sein und Neubeginne,
um sich in Tapferkeit und ohne Trauern
in and’re, neue Bindungen zu geben.
Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne,
der uns beschützt und der uns hilft zu leben.
Wir sollen heiter Raum um Raum durchschreiten,
an keinem wie an einer Heimat hängen,
der Weltgeist will nicht fesseln uns und engen,
er will uns Stuf‘ um Stufe heben, weiten!
Kaum sind wir heimisch einem Lebenskreise
und traulich eingewohnt,
so droht Erschlaffen!
Nur wer bereit zu Aufbruch ist und Reise,
mag lähmender Gewöhnung sich entraffen.
Es wird vielleicht auch noch die Todesstunde
uns neuen Räumen jung entgegen senden:
des Lebens Ruf an uns wird niemals enden.
Wohlan denn, Herz, nimm Abschied und gesunde!
Am Sonntag habe ich mit meinen Lieben nach langer Zeit einmal wieder die Speicherstadt in Hamburg besucht – und auch die neue HafenCity, ein eigener Stadtteil von Hamburg, zu der jetzt der historische Lagerhauskomplex der Speicherstadt, das Kreuzfahrterminal mit dem Marco-Polo-Tower (Wohnung sind wohl noch zu erstehen), dem neuen Unilever-Gebäude und die im Bau befindliche Elbphilharmonie gehört, angeschaut.
Die HafenCity erreicht man entweder gleich vom Hauptbahnhof aus oder mit der U3 (bis Station Baumwall). Den Rest kann man gut zu Fuß zurücklegen. Neben den alten Lagerhäusern sticht natürlich besonders die Elbphilharmonie heraus. Letztere könnte zum neuen Wahrzeichen von Hamburg werden – und ähnelt einem futuristischen Bauwerk (oder ist eines): Es „schwingt sich die gläserne Welle über dem Hafen auf – Architektur der Spitzenklasse, die das Bild Hamburgs in der Welt prägen wird. Die Elbphilharmonie fungiert dabei nicht nur als Leuchtturm der neuen HafenCity, sondern auch der Musikstadt Hamburg: Ihr Herzstück bildet ein neuer Konzertsaal mit 2.150 Plätzen, der zu den besten seiner Art gehören wird.“
Das sichtbarste Zeichen der Klimaänderung ist das Abschmelzen der Gletscher: Wir sind Zeitzeugen des schnellsten Gletscherschwundes seit Jahrtausenden, können heute aber noch richtige Gletscher sehen, noch, denn für unsere Nachkommen wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit schon sehr schwierig sein.
Im Gletscherarchiv wird auf eindringliche Weise anhand von Bildvergleichen der Schwund des Gletschereises gezeigt. Die umfangreiche Dokumentation ist von großer Bedeutung, da dort eine Entwicklung aufgezeigt, deren Gegenstand zunehmend verschwindet.
Zwei dieser Gletscher kenne ich selbst. So habe ich mich 1997 mit meinen Lieben auf dem Hintertuxer Gletscher getummelt. Und 2002 war meine Familie mit mir in Grainau, gleich neben Deutschlands größtem Berg, der Zugspitze:
Tuxer Ferner (Hintertux im Zillertal/Tirol) 1924 und 2003
Schneeferner Zugspitze (Bayern) um 1910 und 2003
Vor 21 Jahren war ich mit meiner Frau (unser älteste Sohn war gerade ‚unterwegs‘) auf Island. Dort ist mit knapp 8500 qkm Europas größter Gletscher, der Vatnajökull. Hier zwei Aufnahmen von unserem Island-Aufenthalt:
Willi über dem Gletscher Skaftafellsjökull ………… und der Gletschersee Jökullsárlon
Es ist eine kleine Schrift von gerade einmal 90 Seiten, die Eugen Herrigel 1951 veröffentlicht hat. Von 1929 bis 1948 war er u.a. Professor für systematische Philosophie in Erlangen. Zuvor war er in Japan tätig und lernte dort den Buddhismus, speziell den Zen-Buddhismus kennen. Das Buch wirkt etwas angestaubt, aber es ist doch eine gute Einleitung in diese fernöstliche Anschauung: Zen in der Kunst des Bogenschießens
Obwohl ich dieses kleine Büchlein wirklich empfehlen kann, so darf nicht verschwiegen werden, dass Eugen Herrigel alles andere als eine unumstrittene Person war: „Am 1. Mai 1937 trat Herrigel in die NSDAP ein und machte Karriere. In verschiedenen Schriften der folgenden Jahren stellte er u.a. vermeintliche Gemeinsamkeiten in deutschen und japanischen Tugenden dar, darunter die Opferbereitschaft für das Vaterland und die Furchtlosigkeit vor dem Tode. Herrigel schrieb 1944 über das Ethos des Samurai: so verstehen wir unseren tapferen Bundesgenossen im fernen Osten doch in allem Wesentlichen, wie es für uns wie für ihn heiligste Überzeugung ist, daß, nach einem tiefen Wort Hölderlins, für das Vaterland noch keiner zu viel gefallen ist. Er pries den unbedingten soldatischen Gehorsam zum Wohle des eigenen Volkes. 1938 wurde er Prorektor und 1944/45 Rektor der Universität Erlangen.“
Zurück zum Buch: Es wurde nicht nur in Deutschland sehr populär und trug maßgeblich zur Bekanntheit des Zen in Europa bei. In dem Vorwort von Deisetz T. Suzuki, der gerade durch seine Bücher und durch die Zusammenarbeit mit namhaften Größen (z.B. Erich Fromm) dem Westen den Zen-Buddhismus gleichfalls näher gebracht hat, steht:
‚Einer der wesentlichsten Faktoren in der Ausübung des Bogenschießens [usw.]… ist die Tatsache, daß sie keinen nützlichen Zwecken dienen, auch nicht zum rein ästhetischen Vergnügen gedacht sind, sondern eine Schulung des Bewußtseins bedeuten und dieses in Beziehung zur letzten Wirklichkeit bringen sollen. So wird Bogenschießen nicht allein geübt, um die Scheibe zu treffen …, sondern vor allem soll das Bewußtsein dem Unbewußten harmonisch angeglichen werden.‘
Eines der wichtigsten Punkte beim Bogenschießen ist die ‚Konzentration durch Atmung‘. Der Autor beschreibt es wie folgt:
‚Drücken Sie nach dem Einatmen den Atem sachte herunter, so dass sich die Bauchwand mäßig spannt und halten Sie ihn da für eine Weile fest. Dann atmen Sie möglichst langsam und gleichmäßig aus, um nach kurzer Pause mit einem raschen Zug wieder Luft zu schöpfen – in einem Aus und Ein fortan, dessen Rhythmus sich allmählich selbst bestimmen wird.‘
Das Bogenschießen selbst wird in Abschnitte gegliedert, bei denen die richtige Atmung vielleicht die wichtigste Rolle spielt:
‚Der einheitliche Vorgang des Spannens und Schießens wurde in die Abschnitte: Ergreifen des Bogens – Auflegen des Pfeiles – Hochnehmen des Bogens – Spannen und Verweilen in der höchsten Spannung – Lösung des Schusses zerlegt. Jeder von ihnen wurde durch Einatmen eingeleitet, durch Festhalten des heruntergedrückten Atems getragen und durch Ausatmen abgeschlossen.‘
Der Weg ist ein sehr langer. Der Autor des kleinen Büchleins hat mehrere Jahre bei einem Meister gelernt. Dieser verdeutlichte ihm, dass, ‚… wer sich am Anfang leicht tut, tut sich später um so schwerer.‘
Das Bogenschießen im Einzelnem:
‚Beim Spannen wird der Daumen unterhalb des Pfeiles um die Bogensehne herumgelegt und eingeschlagen, Zeige-. Mittel- und Ringfinger greifen über ihn, umschließen ihn fest und geben damit zugleich dem Pfeil sicheren Halt. Lösen des Schusses heißt dann: Die den Daumen umschließenden Finger öffnen sich und geben ihn frei.‘ Sodass sich ‚… die recht Hand … plötzlich geöffnet und von der Spannung befreit, zwar ruckartig zurückschnellte, aber nicht die geringste Erschütterung des Körpers hervorrief.‘
Das Bogenschießen als Bild: ‚Mit dem oberen Ende des Bogens durchstößt der Bogenschütze den Himmel, am unteren Ende hängt, mit einem Seidenfaden befestigt, die Erde. Wird der Schuß mit starkem Ruck gelöst, besteht die Gefahr, dass der Faden zerreißt. Für den Absichtlichen und Gewalttätigen wird dann die Kluft endgültig, und der Mensch verbleibt in der heillosen Mitte zwischen Himmel und Erde.‘ – ‚… wenn die Spannung erfüllt ist, muß der Schuß fallen, er muß vom Schützen abfallen wie die Schneelast vom Bambusblatt, noch ehe er es gedacht hat.‘
Der Autor fragte den Meister: ‚Wie kann denn überhaupt der Schuß gelöst werden, wenn ‚ich’ es nicht tue? – Des Meisters Antwort: ‚Es’ schießt.‘
Und als es nicht klappen wollte, da sagte der Meister: ‚Ihre Pfeile werden nicht ausgetragen …, weil sie geistig nicht weit genug reichen. Sie müssen sich so verhalten, als wäre das Ziel unendlich fern.‘ Und: ‚Über schlechte Schüsse sollen Sie sich nicht ärgern, … sich über gute Schüsse nicht freuen. Von dem Hin und Her zwischen Lust und Unlust müssen Sie sich lösen …, in gelockertem Gleichmut darüber … stehen.‘
Überhaupt gilt: ‚Die ‚Große Lehre’ des Bogenschießens … weiß nichts von einer Scheibe, die in bestimmter Entfernung vom Schützen aufgestellt ist. Sie weiß nur von dem Ziel, das sich auf keine Weise technisch erzielen lässt …: Buddha!‘ – Wir können auch sagen: den Weg zu uns selbst!
Und: ‚Es gibt Stufen der Meisterschaft, und erst, wer die letzte erreicht hat, kann auch das äußere Ziel nicht mehr verfehlen.‘ – ‚Wer es vermag … mit dem Horn des Hasen und dem Haar der Schildkröte zu schießen, also ohne Bogen (Horn) und Pfeil (Haar) die Mitte zu treffen, der erst ist Meister im höchsten Sinne des Wortes …‘
Das Bogenschießen gilt im Zen-Buddhismus als meditative Übung. Wie in der inneren Versenkung der Meditation so findet der das Bogenschießen Ausübende den rechten Weg und die harmonische Angleichung des Bewußtseins an das Unbewußte, wie Suzuki einleitend schreibt.
Ich stöbere gern in alten Atlanten. Unsere Erde hat irgendwie etwas Beständiges, auch wenn sich die Ländergrenzen, wie gerade in den letzten 20 Jahren, ständig ändern. Natürlich weiß ich, dass nichts so bleibt wie es ist, auch auf unserer guten Erde nicht. Da bahnt sich ein Fluss neue Wege, da bröckelt Felsen oder es entsteht durch vulkanische Tätigkeit auch schon einmal eine kleine neue Insel. Aber so dramatisch, wie es um den riesigen Aralsee in Zentralasien bestellt ist, so etwas habe ich dann doch in diesem Ausmaß bisher nicht erfahren.
Der Aralsee ist kaum wieder zu erkennen, wenn man aktuelle Luftbilder mit vierzig Jahre alten Karten vergleicht. Heute hat der Aralsee nicht einmal mehr die Hälfte der ursprünglichen Ausdehnung (früher war er einer der größten Seen unsere Erde mit über 65.000 qkm). Eine Fläche so gross wie die Schweiz ist trocken gefallen. Das Wasservolumen ist sogar auf einen Fünftel von früher geschrumpft. Und der Grund: Bewässerung der Felder zur Produktion von Baumwolle für unsere Kleider.
Der Aralsee ist ein Beispiel für den brachialen Eingriff, den die Menschen in die Natur vornehmen. Erschreckend!
Es hat immerhin vierzig Jahre gebraucht, bis ich mir den Film angeschaut habe. Aus gegebenem Anlass, denn Antony Burgess’ Roman läuft in einer Bühnenadaption zz. im Altonaer Theater in Hamburg.
Anthony Burgess’A Clockwork Orange – in einer Aufführung des Altonaer Theaters Hamburg
Am nächsten Samstag besuche ich mit meinen beiden Söhnen die Aufführung. Wir sind schon sehr gespannt, denn das Stück (Buch und Film) ist durchaus sehr aktuell. Dazu aber später mehr …
Wer weder Buch noch Film kennt, hier eine kurze Inhaltsangabe:
„Alex DeLarge und seine Gang, die Droogs, sind jung, charismatisch, brutal und gewissenlos. Sie treffen sich in einer Milchbar, trinken „Moloko“ – Milch mit Drogen – und ziehen los, um wahllos Menschen zu überfallen, zu berauben, zu quälen, zu vergewaltigen. Sie zelebrieren ihre abendlichen Gewaltstreifzüge aus purer Freude an der Gewalt. Der Bewährungshelfer ist machtlos, Alex gelingt es jedes Mal sich die Hände reinzuwaschen. Doch bei einem Einbruch wird Alex von einem seiner Droogs außer Gefecht gesetzt und von der Polizei verhaftet. Er fühlt sich verraten und selbst als Opfer.
Im Gefängnis wird er einer neuartigen Therapie unterzogen und fortan wird ihm beim geringsten Gedanken an Sex und Gewalt übel. Zu eigenen gewalttätigen Handlungen ist er nicht mehr fähig.“
Botho Strauß (* 2. Dezember 1944 in Naumburg) ist ein deutscher Schriftsteller und Dramatiker. Er gehört zu den erfolgreichsten und meistgespielten zeitgenössischen Dramatikern auf deutschen Bühnen. Sein Stück Kalldewey, eine Farce, wurde am 31.01.1982 in der Regie von Niels-Peter Rudolph am Deutschen Schauspielhaus Hamburg uraufgeführt.
Das Stück von Botho Strauß selbst kenne ich aus einem Band mit verschiedenen Theaterstücken (suhrkamp taschenbuch 1190 – 1. Auflage 1985) Theater heute, dessen andere Stücke ich hier bereits alle vorgestellt habe.
Personen:
Der Mann (Hans)
Die Frau (Lynn)
K (Kattrin)
M (Meret)
Zweiter Mann (Kalldewey)
Kellner/Chef
M: … nur Lieb und Graus …
„Lynn und Hans wollen Abschied nehmen und kommen doch nicht voneinander los. Dann explodiert die Elegie, anfangs verbal und kurz darauf in einer Orgie der Gewalt, die Küsse auf Bisse reimt: Lynn hat zwei Lesben angeheuert, mit deren Hilfe sie ihren Mann zerfetzt und in die Waschmaschine stopft. Erneut abrupter Szenenwechsel: Alle sind wieder wohlbehalten auf der Bühne, bilden inzwischen eine Art Therapiegemeinschaft und feiern Lynns Geburtstag. Neben Hans erscheint ein zweiter Mann, den keiner kennt und keiner eingeladen hat. Er heiße Kalldewey, sagt er, gibt ein paar Obszönitäten von sich und bleibt ansonsten stumm. Zuerst ist er den anderen lästig, doch als er so plötzlich, wie er kam, verschwindet, fehlt er ihnen sehr. Ein zweites Mal sind Lynn und Hans mit sich allein, bis der letzte Akt sie auf den Korridor eines Bürogebäudes katapultiert. Der Chef, von dem man nur die Stimme hört, ist hier zugleich der Therapeut und lässt alle ohne allzu großes Zutun in turbulenten Rollenspielen ihre Konflikte mit sich, Gott und der Welt durchexerzieren …“ (Quelle: rowohlt-theaterverlag.de)
Der Mann: Da gab es einmal einen Rattenfänger, dem sind wir hinterher. Mit seiner Flöte zog er uns das Ungeziefer von der Seele und ertränkte es im Vergessensfluß.
Strauß‘ Persiflage auf das Heilsbegehren westlicher Wohlstandsmenschen wurde 1982 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis ausgezeichnet: „Kalldewey, Farce beschreibt die Zerstörtheit ehelicher und nicht-ehelicher Zweierbeziehungen, die Scharlatanerie der zur Routine gewordenen Seelen- und Gruppentherapie, das Versatzstückhafte einer sich anti-bürgerlich gebenden Sprache. Kalldewey, Farce ist gleichzeitig ein Beitrag zu einer zeitgenössischen Dramaturgie. Das Stück bekennt sich in jedem Augenblick dazu … nichts als Theater zu sein.“ (Aus der Begründung der Jury – Quelle: rowohlt-theaterverlag.de)
Der Mann: Es war dies nur ein Spiel mit tieferen Spielen
Nicht wirkliche Magie: nach Katalog bestellte Therapie
Ein Wühlen in der Krabbelkiste namens Seele
Restposten, alte Wünsche grün und blau
Spottbillig der Krempel, man wühlt sich
Durch Gelegenheiten, halb gierig, halb interesselos
Und bringt bestimmt was Überflüssiges nach Haus.
Dennoch hab ich viel dazugewonnen.
Die Kur war schlimm, die Regeln wirr
Doch hätt ich niemals bessere Partner finden können
Als ihr es wart, ihr drei, ihr wart fantastisch
Ich dank euch vielmals, große Könner!
K: Nun lassen wir noch etwas liegen hier,
nur zur Erinnerung – für Kalldewey.