Kategorie-Archiv: Wiedergelesen

Wiedergelesen – wiederentdeckte Literatur

Zwei Jahre Rentnerdasein: Willi liest … Kriminalromane

Am Ende des Monats bin ich bereits seit zwei Jahren Rentner (siehe auch: Ein Jahr Rentnerdasein). Kaum zu glauben, wie die Zeit vergeht. Mein Rentnerdasein ist zu einem festen Teil Lesezeit. Okay, James Joyce‘ Ulysses habe ich immer noch nicht gelesen (Im nächsten Jahr – bis dahin ist es nicht mehr lange hin – jährt sich zum hundertsten Mal der Jahrestag des Erscheinens (1922) dieses Romans. Also wäre das DANN doch der richtige Zeitpunkt, oder?) – Dafür habe ich jede Menge anderer Bücher gelesen: in den 24 Monaten komme ich auf über 26.000 gelesene Buchseiten. Nicht übel für einen, der noch viele andere Sachen auf dem Zettel hat …

Willi liest ... Kriminalromane
Willi liest … Kriminalromane

in den letzten Tagen habe ich bereits einige der von mir gelesenen Bücher vorgestellt und weitere Bücher werden so peu à peu folgen. Hier schon einige Bücher auf einem Streich. Es handelt sich um Kriminalromane (oder ähnliches):

Lawrence Norfolk: Lemprière ’s Wörterbuch

London im Jahre 1788: John Lemprière sitzt am Ufer der Themse und wartet auf das Postschiff, das ihn auf die Insel Jersey zurückbringen soll. Und er erinnert sich dabei an die Ursprünge der englischen Ostindien-Gesellschaft, die auf geheimnisvolle Weise mit der Geschichte seiner Familie verbunden ist. Der Held gerät in den Taumel einer Spurensuche, irrt durch die Straßen und Gassen des alten London und verliert sich in seltsamsten Abenteuern. Mit abgefeimter Raffinesse und in einer Sprache von bestrickender Farbigkeit entwirft der Roman das Labyrinth dieser Suche, schildert riskante Geschäftsübernahmen, transkontinentale Entdeckungsreisen, perfide Finanzverschwörungen und erzählt eine ganz wunderbare, originelle und zart-versponnene Liebesgeschichte. Er wird bevölkert von Gelehrten, Exzentrikern, Kapitänen, verschrobenen Aristokraten, lockenden Huren, Meuchelmördern und eienr Bande betagter Piraten. Die abgründige Geschichte führt durch zwei Jahrhunderte bis an die Schwelle der Französischen Revolution. Im Zentrum steht die Fehde zwischen den Lemprières und einer schattenschaften Geheimgesellschaft, der Cabbala, die ihren Einfluß auf ganz Europa ausdehnen will. (aus dem Klappentext)

Lawrence Norfolk, der Autor, wurde 1963 in London geboren. Ich habe seinen Erstlingsroman Lempriere’s Wörterbuch in einer 2. Auflage August 1998 als btb Taschenbuch (Goldmann Verlag) vorliegen, bei dem es sich um ein wildes Gemisch aus Abenteuer-, Kriminal-, Geschichts- und Liebesroman handelt. Das titelgebendem Wörterbuch ist eine Art Lexikon, in dem zum ersten Mal die in den antiken Texten vorkommenden Namen der griechischen Mythologie mit kurzen Beschreibungen alphabetisch aufgeführt wurden.

Der Roman wurde vielerseits als aufsehenerregendes, wortgewaltiges Meisterwerk gepriesen. Ich finde es vor allem überladen und mit seltsamen Metaphern (z.B. ’straffe Haut der Stadt‘ oder ’schieres Gewicht, ein tiefes Baßgerumpel in seinen schlecht orchestrierten Gedanken‘ – S. 218) bestückt. Die Literaturkritik der Zeit bemängelte an dem Roman „seine eisige Künstlichkeit, seine Plastik-Perfektion“. Darüber hinaus entzündete sich an Hanswilhelm Haefs‘ eigenwilliger Eindeutschung des Romans eine Debatte über die Qualität der Übersetzung. Nicht umsonst findet sich das Werk heute nur noch in Antiquariaten. Trotz der interessant erscheinenden Art von ‚Räuberpistole‘ ist es für mich das bisher zweitschlechteste Buch, das ich gelesen habe. Das bisher Schlechteste war von David Payne: Bekenntnisse eines Taoisten an der Wall Street. Ich hatte damals das Lesen sehr bald aufgegeben …

Graham Greene: Der dritte Mann/Kleines Herz in Not

„Der dritte Mann“ wurde nicht geschrieben, um gelesen, sondern um gesehen zu werden. (Vorwort von Graham Greene)

Ich habe den Roman Der dritte Mann (mit der Erzählung „Kleines Herz in Not“, die laut Greene ’nicht für den Film geschrieben‘ wurde) in einer Ausgabe des Fackelverlags Olten – Stuttgart – Salzburg aus dem Jahre 1962 vorliegen. Es handelt sich dabei um einen spannenden Thriller im Nachkriegs-Wien des Jahres 1945 und ist ein fesselnder Roman über Freundschaft, Korruption und Verbrechen – der durch die spannende Verfilmung mit Orson Welles bekannt wurde.

»Er hegte nicht mehr den geringsten Zweifel, daß ein Mord geschehen war. Warum sonst hätten sie ihn über den Zeitpunkt des Todes angelogen? Sie wollten mit ihren Geldgeschenken und der Flugkarte die einzigen zwei Freunde, die Harry in Wien hatte, zum Schweigen bringen. Und der dritte Mann? Wer war dieser dritte Mann?«

Wien 1945. Russen, Amerikaner, Franzosen und Briten haben die Stadt gemeinsam besetzt. Vor dem Hintergrund der Ruinen blühen die dunklen Geschäfte. Rollo Martins, der Jugendfreund von Harry Lime, steht vor einem Rätsel. War Harry der skrupellose Kopf einer Schieberbande?

Jan Costin Wagner: Eismond

Sanna ist tot. Und obwohl Kimmo Joentaa weiß, daß seine junge Frau an Krebs gestorben ist, kann er ihren Tod einfach nicht begreifen. In einer Art Trancezustand versucht er, sein Leben weiterzuführen, als sei nichts gewesen. Wie in einem dunklen Traum gefangen, sitzt er in seinem Büro in der Polizeidirektion der finnischen Stadt Turku, bis ihn dort die Nachricht eines eigenartigen Mordfalls erreicht: Eine Frau wurde im Schlaf mit einem Kissen erstickt, vom Täter und einem möglichen Motiv fehlen jede Spur. Als Joentaa den Tatort betritt, glaubt es, wieder Sanna vor sich zu sehen – scheinbar schlafend, träumend, und in Wahrheit doch brutal aus dem Leben gerissen. Die junge Frau wird nicht das einzige Opfer des mysteriösen Mörders bleiben, der immer nach der gleichen Methode vorgeht und durch Wände zu gehen scheint. Kimmo Joentaa fühlt sich mit dem Täter auf eigentümliche Weise verbunden, denn er ahnt, daß sie beide etwas eint: der Wunsch, den Tod zu verstehen. Da nur die Suche nach dem Mörder seinem Leben noch einen Sinn zu geben scheint, hofft Joentaa gegen alle Vernunft, diese Suche möge nie zu Ende gehen … (aus dem Klappentext)

Jan Costin Wagner wurde 1972 in Langen bei Frankfurt geboren. Der Schauplatz seines Romans Eismond ist nicht nur das Land, aus dem seine Ehefrau stammt, Finnland ist inzwischen dem Autor zur zweiten Heimat geworden. Ich habe den Krimi in 1. Auflage August 2005 als Taschenbuchausgabe des Goldmann Verlags, München, vorliegen. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe mit Romanen um den finnischen Polizeiinspektor Kimmo Joentaa.

Martha Grimes: Inspektor Jury geht übers Moor

Es ist viele Jahr her, dass ich über die Kriminalromane um Inspektor Jury von der US-amerikanischen Autorin Martha Grimes gestolpert bin. Von den inzwischen 25 Krimis habe ich fünf vorliegen, u.a. Den 10. Teil der Reihe: Inspektor Jury geht übers Moor

Bei den Romanen handelt es sich um traditionelle englische Kriminalromanen um Inspektor Richard Jury, in denen Martha Grimes die sich in komplizierten Verstrickungen verlierenden Fälle des melancholischen Protagonisten beschreibt. Der Inspektor bzw. Superintendent von Scotland Yard wird dabei von seinem humorvollen Freund Melrose Plant unterstützt, der sich ob seines ererbten Reichtums erlauben kann, seine Adelstitel abzulegen, sowie von dem stets kränkelnden Assistenten Sergeant Alfred Wiggins. Übrigens: Alle „Inspector Jury“-Romane sind im Original nach real existierenden Pubs benannt. Cheerio!

Inzwischen gibt es auch eine österreichisch-deutsche Filmreihe in bisher 4 Folgen zu der Romanreihe:

siehe auch: Genutzte Zeit zum Lesen

Siegfried Lenz: Deutschstunde

Heute zeigt das ZDF die 2019 entstandene Verfilmung eines Romans von Siegfried Lenz: Deutschstunde. Das Video ist in Deutschland bis zum 10.11.2021 in der ZDF-Mediathek verfügbar (Video in HDTV im Download)

Das Buch habe ich wie folgt vorliegen: Auflage April 1982: 481. – 510. Tausend – Deutscher Taschenbuch Verlag, München – 944 – und 2018 von mir gelesen (Genutzte Zeit zum Lesen).

Siggi Jepsen, Insasse einer Hamburger Besserungsanstalt, hat in der Deutschstunde versagt und muß den Aufsatz ‚Die Freuden der Pflicht‘ nachliefern. Dem in seiner Zelle Eingeschlossenen drängt sich das Bild des Vaters in die Erinnerung, wie dieser als Polizeihauptwachtmeister in Rugbüll, „dem nördlichsten Polizeiposten Deutschlands“, dem international geachteten Maler Max Ludwig Nansen im Jahre 1943 das Malverbot überbringt. Der Vater war außerdem beauftragt, die strikte Einhaltung des Verbots zu überwachen. Siggi, damals zehn Jahre alt, hatte heimlich gemalte Bilder des Malers in Sicherheit gebracht, um sie vor dem Zugriff des Vaters zu schützen, der bis über das Kriegsende hinaus an seiner nun schon krankhaften Pflichttreue festhält. Um diese Geschichte gegensätzlicher Pflichtauffassungen gruppiert sich eine Fülle von Nebenhandlungen, die sich wie selbstverständlich in den weitgespannten Rahmen fügen. „Die präzise Phantasie des Autors ist auf den Weiten zwischen Torf, Watt und Meer, aber auch in den geduckten Fischerkaten der Menschen mit dem zweiten Gesicht zu Hause. Eine in all ihrer Grenzenlosigkeit und wortkargen Größe doch beklemmend enge Welt aus Vorurteilen und starrer Beharrlichkeit entfaltet sich, mit hinreißender Sprachgewalt und epischer List porträtiert, zum Bild einer Epoche; jene ländliche Welt kleinbürgerlicher Pflicherfüllung, in der die Macht so leicht Wurzeln schlägt.“ (Stuttgarter Zeitung) – (aus dem Klappentext)

Siegfried Lenz, 1926 in Lyck (Ostpreußen) geboren, arbeitete zunächst für Zeitungen und Rundfunk und lebte als freier Schriftsteller in Hamburg, wo er 2014 starb. Ein großer Erfolg wurde seine Sammlung heiterer Geschichten aus Masuren: >So zärtlich war Suleyken> (1955).

Hier die wichtigsten Personen:
Siggi Jepsen — in Rugbüll, Bleekenwarf
Jens Ole Jepsen, Vater
Hilke, Schwester

Max Ludwig Nansen, Maler
Ditte, seine Frau

Karl Joswig, Wächter
Dr. Julius Korbjuhn
Himpel, Direktor

Pelle Kastner, Freund
Eddi Sillus, Freund
Kurtchen Nickel, Freund

Tetjus Prugel, Lehrer

Ole Plötz
Charlie Friedländer
Philipp Neff

Siegfried Lenz war wie mein Vater ein gebürtiger Ostpreuße, wurde dann aber nach dem 2. Weltkrieg in Hamburg heimisch. So spielen viele seiner Romane und Erzählungen in und um Hamburg. Und an der Nordsee:

Alles war an seinem Platz, aber alles sah anders aus jeden Tag, unter verändertem Licht, unter verändertem Himmel, mit wie vielen Überraschungen konnte allein die Nordsee aufwarten, die bei der Hinfahrt noch breit, fast verschlafen den Strand leckte, auf der Rückfahrt dann taumelige Wellen aus grünblauer Tinte gegen die Buhnen schleuderte. Oder die Höfe: einmal bescheiden und wie verdammt unter langen Regenschleiern, verloren unter Grau; dann wenn milchiges Weiß auf sie fiel oder wenn die Wiesen vor und hinter ihnen aufleuchteten, behäbig und selbstbewußt mit mittäglichem Stornsteinrauch. Oder der Wind: einmal pfiff er durch die Speichen und war vergnügt und wollte sich totlachen, wenn man ins Schleudern kam, dann warf er einem wütend den Regenumhang ins Gesicht oder ließ den Umhang flattern und schlagen oder schubste einen vom Deich. Wie oft alles wechselt hier, täglich, stündlich, wie oft man sich etwas denken kann über die Unterschiede, man kann sich auch erregen über die Unterschiede, wenn man nur will.
(S. 336)

Siegfried Lenz und Jan Fedder 2008 (anläßlich der Verfilmung 'Das Feuerschiff')
Siegfried Lenz und Jan Fedder 2008 (anläßlich der Verfilmung ‚Das Feuerschiff‘)

Einige der Werke von Siegfried Lenz wurden auch verfilmt, so Der Mann im Strom (2006), Das Feuerschiff (2008) und Arnes Nachlass (2013) mit Jan Fedder, der sich mit Lenz angefreundet hatte.

„Die deutsche erzählende Literatur seit 1945 ist, fast durchwegs, eine ‚Deutschstunde‘; Arbeit an der Vergangenheit, mit der Vergangenheit; Arbeit zur Gegenwart. Vieles in ihr ist thesenhaft auffällig; zeitbedingte Aufgabe, Strafaufgabe. Aus dieser manchmal etwas grämlichen Literatur setzt sich Siegfried Lenz mit einem Meisterwerk ab, dessen Ernst voller Trauer ist – wie es nur bei einem Beobachter sein mag, der Humor hat.“ (Die Zeit)

Franz Kafka: Das Schloss

    Es war spätabends, als K. ankam.
    Kafka: Das Schloss – das erste Kapitel

Immer wieder stolpert der werte Leser meines Blogs über … Franz Kafka. Zu einem ist es ein Artikel über Kafka und/oder sein Werk, zum anderen ziehe ich Vergleiche mit ihm. Kafka schrieb drei Romane, die allesamt unvollendet blieben. Viele Kafka-Kenner sagen, dass diese nicht ohne Grund unvollendet blieben: Ein Ende, ein Schluss wäre nicht möglich. Open End wird das beim Film genannt.

Franz Kafka 1924
Franz Kafka 1924

Nach Kafkas Roman Der Prozess habe ich nun Das Schloss erneut gelesen. Es liest sich leicht und locker, ist gespickt mit Dialogen, ähnelt einem Drehbuch. Kafka ist eigentlich unkompliziert – aber was so real beschrieben ist, gleicht doch eher einem Alptraum: Da ist K., der Landvermesser, der gekommen ist, um seine Arbeit aufzunehmen. Er versucht, Zugang zum Schloss zu bekommen, gerät dabei in die Mühlen der Schlossverwaltung …. (soviel zur Inhaltsangabe).

Es ist viel in diesen Roman hineingedeutet worden. In der existentialistisch geprägten Interpretation von Albert Camus steht der ergebnislose Versuch K.s sich dem Schloss anzunähern für die berechtigte aber erfolglose Sinnsuche des Menschen in einer sinnentleerten Welt.

Max Brod sah in dem Roman ein theologisches Modell, nämlich den Ort göttlicher Gnade. Als enger Vertrauter und Nachlassverwalter Kafkas konnte er dies mit einer gewissen Berechtigung vorbringen. Adorno interpretierte das Werk als Darstellung von Hierarchie- und Machtstrukturen auch künftiger totalitärer Systeme. Weitere Deutungen sehen eine schwarze Satire auf Macht, Willkür und Überbürokratisierung von Behörden und Staatsapparaten. Das „Schloss“ könnte nach psychoanalytischer Deutung auch die Welt der Väter darstellen, die zu erobern der Sohn sich vergeblich bemüht. Peter Weiss erklärt in seinem Roman-Essay Ästhetik des Widerstands Kafkas Roman zu einem Proletarierroman.

In dem japanischen Film Guilty of Romance aus dem Jahre 2011 von Sion Sono wird „Das Schloss“ (japanisch: 城) von Franz Kafka zum Sinnbild für eine vergebliche Suche. Wie K., der Landvermesser aus dem Roman, finden sie nicht das ‚Tor’, keinen Zugang zum Schloss, also keinen Zugang zum eigenen Ich.

Guilty of Romance (2011) – an der Wand steht 城 – 'Das Schloss'
Guilty of Romance (2011) – an der Wand steht 城 – „Das Schloss“

Nun ich habe Kafkas Erzählungen und Romane als Gesammelte Werke – herausgegeben von Max Brod – in einer Taschenbuchausgabe in sieben Bänden – Fischer Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main – Ungekürzte Ausgabe – April 1976. Die Bildbände, die Sekundärliteratur u.v.m. zu Kafka füllen bei mir inzwischen zwei Regalreihen aus. Für mich ist er die faszinierendste Person der deutschsprachigen Literatur.

Obwohl die Anzahl der wichtigsten Protagonisten des Romans Das Schloss durchaus übersichtlich ist, so habe ich in einer Übersicht auch die Randfiguren aufgeführt:

Personen:

[das Schloß des Herrn Grafen Westwest]

K., der Landvermesser [zu Hause ‚das bittere Kraut‘ genannt]
Hans, Wirt im Wirtshaus ‚Zur Brücke‘
Gardena, Frau des Wirtes
[Kastellan Schwarzer]
Unterkastellan Fritz
Gerbermeister Lasemann
Artur – vom Schloss, Gehilfe von K.
Jeremias – vom Schloss, Gehilfe von K. – später Zimmerkellner im ‚Herrenhof“
Fuhrmann Gerstäcker

Herr Oswald, Telefonat mit dem Schloss
Barnabas, ein Bote
Barnabas‘ Eltern
Olga, Schwester Barnabas‘
Amalia Schwester Barnabas‘
Klamm, Vorstand
{der X. Kanzlei]
Wirt im ‚Herrenhof‘

Frieda, Ausschankmädchen im ‚Herrenhof‘, angeblich Geliebte von Klamm
Vorsteher im Dorf
Mizzi, seine Frau
Sordini, Referent in Abteilung B [des Schlosses]
Otto Brunswick, Schustermeister [in der Madeleinegasse] und Gemeinderat, Schwager von Lasemann, dem Gerbermeister
Hans Brunswick, sein junger Sohn, Schüler der 4. Klasse
Frieda Brunswick, Schwester von Hans

Pepi, Nachfolgerin von Frieda als Ausschankmädchen im ‚Herrenhof‘
Henriette und Elilie, Pepis Freundinnen
Momus, Dorfsekretär Klamms [und für Vallabene]

Schwarzer, Sohn des Kastellans, Hilfslehrer [liebt Gisa]
der Lehrer
Gisa, Lehrerin im Dorf

Sortini, großer Beamter [nicht mit Sordini verwandt]
Seemann, Obmann der Feuerwehr
Galater, Vertreter von Klamm
Erlanger, erster Sekretär Klamms

[Friedrich, Beamter im Schloss]
Bürgel, Verbindungssekretär zwischen Friedrich und dem Dorf

Der Roman gliedert sich in folgende Kapitel:

1. Ankommen – Gerbermeister/Kutscher
2. Telefon Errlaubnis – Barnabas, der Bote
3. Herrenhof – Frieda – Schlaf
4. Gespärch mit Wirtin – Dachboden
5. Gespräch Vorsteher
6. Gespräch Wirtin – Verschlag / Küche
7. Gespräch mit Lehrer
8. Herrenhof Kutsche – Warten auf Klamm
9. Herrenhof Verhör – Gespräch mit der Wirtin
10. Heimweg – Treffen Barnabas – Brief Klamms
11. Im Schulzimmer nachts
12. Lehrer und Lehrerin im Schulzimmer
13. Entlassung der Gehilfen – Gespräch mit Hans Brunswick – Vorwurf Friedas
14. Schwarzer – Olga – Amalia
15. Gespräch Olga über Barnabas‘ Botentätigkeit – Vorwurf
– Amalias Geheimnis
– Amalias Strafe
– Bittgänge
– Olgas Pläne
16. Gespräch mit dem Gehilfen Jeremias (Galater) – Barnabas -> Erlanger Vermittlung
17. Waren auf Erlanger
18. Gespräch mit Frieda (Abschied?)
19. Bei Erlanger – Auf dem Flur
20. Gespräch mit Pepi – Herrenhofs Wirtins Kleider
Fragmente und gestrichene Stellen

Wie ich oben erwähnte, ähnelt Kafkas Roman in großen Teilen einem Drehbuch. In meinem Beitrag Kafka, der Prozess und das Kino schrieb ich vor nun fast 10 Jahren:

Kafka interessierte sich sehr für ein neues Medium, den Cinémato- bzw. Kinematographen – also das Kino […]. Liest man die besagten gut 13 Seiten des Romananfangs [von ‚Der Prozess‘], dann fällt einem sehr bald der „filmische Blick“ des Erzählers auf. Diese Seiten (und überhaupt das gesamte Werk) weisen einen hohen Grad an Visualität auf. Besonders die vielen Gesten der Handelnden werden – ähnlich wie in einem Drehbuch – sehr präzise beschrieben und erläutert. Franz Kafka war ein stetiger Besucher von Kinos. So wiederholen sich in seinen Romanen Szenen (z.B. im Prozess), die einem Running Gag entsprechen. Und es gibt Slapstickeinlagen, z.B. auf Seite 70: „Die so lange unbeachteten Gehilfen und Mizzi hatten offenbar den gesuchten Akt nicht gefunden, hatten dann alles wieder in den Schrank sperren wollen, aber es war ihnen wegen der ungeordneten Überfülle der Akten nicht gelungen. Da waren wohl die Gehilfen auf den Gedanken gekommen, den sie jetzt ausführten. Sie hatten den Schrank auf den Boden gelegt, alle Akten hineingestopft, hatten sich mit Mizzi auf die Schranktüre gesetzt und suchten jetzt so, sie langsam niederzudrücken.“

Jonathan Swift: Gullivers Reisen

Vor zweihundert Jahren [inzwischen sind es schon fast dreihundert Jahre] sind in England kurz nacheinander zwei Bücher geschrieben worden, welche sich rasch über die ganze Welt verbreitet haben und seither in tausend Bearbeitungen, Übersetzungen und Nachdichtungen zu den weitverbreitetsten Büchern der Welt gehören. Es sind Dafoes Robinson und Swifts Gulliver, beides halbphantastische Reiseromane, beide ursprünglich durchaus für Erwachsene geschrieben, beide im Laufe der Zeit zu höchst haltbaren und ermeßlich einflußreichen Kinderbüchern geworden.
[zu Jonathan Swifts Gullivers Reisen:] „Es steht also Zeitloses, es steht Menschliches in diesem Buch, das uns alle angeht, heut wie damals.“ (aus dem Vorwort von Hermann Hesse)

Wer hat noch nie davon gehört, es vielleicht auch nicht gelesen, wenn auch in einer für Kinder bzw. Jugendliche verkürzten Fassung: Jonathan Swifts Gullivers Reisen?! Wer hat noch nie etwas vom Land Lilliput gehört?! (Es ist noch nicht so lange her, da wurden bei uns kleinwüchsige Menschen als ‚Lilliputaner‘ gezeichnet.) – Wohl nur die Wenigsten, die Nichtleser, die Yahoos!

Jonathan Swift: Gulliver im Land Lilliput (Illustration: Grandville)
Jonathan Swift: Gulliver im Land Lilliput (Illustration: Grandville)

Jonathan Swift, geboren am 30.11.1667 in Dublin, ist am 19.10.1745 dort gestorben.
Er gehörte in Deutschland lange Zeit zu den verkannten, das heißt eben auch nichtübersetzten Schriftstellern. Eine Ausnahme bildete schon immer sein Werk: „Reisen – zu mehreren entlegenen Völkern der Erde – in vier Teilen von – Lemuel Gulliver – erst Wundarzt – später Kapitan mehrerer Schiffe“ – kurz: Gullivers Reisen.
Dieses Buch aber wurde leider alsbald, verstümmelt und verkürzt, zur Kinder- und Jugendlektüre verniedlicht
[auch Erich Kästner hat das Buch für Kinder bearbeitet].
Dabei handelt es sich bei diesem Buch um eine hochkarätige Satire auf die Lebensgewohnheiten und politischen Gepflogenheiten der damaligen Zeit, der der Autor das fadenscheinige Mäntelchen der exotischen Reisebeschreibung umhing. (aus dem Klappentext)

Das gilt besonders für die Beschreibung der dritten und vierten Reise: Was Swift hier schreibt lässt sich (leider!) auch auf heutige Zeiten anwenden, in denen es weiterhin an korrupten Politikern und gnadenlosen Staatsführern nur so wimmelt.

Ich habe das Buch mit den vielen grandiosen (sic!) Illustrationen von Grandville – Vorwort von Hermann Hesse – aus dem Englischen übersetzt von Franz Kottenkamp – vervollständigt und bearbeitet von Roland Arnold – als Insel Taschenbuch 58 – vierte Auflage, 30. – 35. Tausend 1981 vorliegen. Ich lese das Buch zz. mit Hochgenuss. Da kann es draußen trübe sein. In meinem Zimmer leuchten die Zeilen und erleuchten die wunderschönen Illustrationen (lateinisch illustrare „erleuchten, erklären, preisen“) von Grandville.

Hier die vier Reisen Gullivers im Überblick:
Erster Teil: Eine Reise nach Lilliput
Zweiter Teil: Eine Reise nach Brobdingnag
Dritter Teil: Eine Reise nach Laputa, Balnibarbi, Luggnagg, Glubbdubdrib und Japan
Vierter Teil: Eine Reise in das Land der Houyhnhnms (sprich: ‚Huinəm)

siehe auch François Rabelais: Gargantua und Pantagruel (von dem Swift einige Ideen gemopst hat)

Vergessene Stücke (16): Peter Weiss: Der neue Prozeß

    Leni: Die Firma brauchte jemanden in der Leitung, den kein Argwohn treffen konnte, auf dessen Redlichkeit man sich bei allen Vorstößen, allen Abschlüssen berufen konnte. Sie brauchen nur genannt zu werden, und das ganze Unternehmen ist die Wahrheit selbst.
    K: Auch wenn ich nicht mehr daran glaube, noch etwas tun zu können –
    Leni: Ihre Unschuld paßt auf alles, was – ohne Ihr Wissen – vorgenommen wurde.
    K: So ein Geringer wie ich –
    Leni: So ein Geringer kann der Macht ihr Gesicht geben.
    K: Ohne auf sie einzuwirken?
    Leni: Ohne auf sie einzuwirken.

Gestern hatte ich mich mit Peter Weiss‘ Roman Die Ästhetik des Widerstands, in dem er sich auch mit Kafkas fragmentarischen Roman Das Schloss (dazu später etwas mehr), beschäftigt. Heute nun noch einmal Peter Weiss – und Franz Kafka: Der Prozess

Josef K. wird befördert. In rasantem Tempo steigt er auf. Eben noch hatte er sich in seine Position als Prokurist in der Versicherungsabteilung eingewöhnt und sich in seinem Büro eingerichtet, da befördert man ihn in die Hauptverwaltung des Konzerns. Von dort geht es blitzschnell weiter in die Direktion. Herr K. weiß bald nicht mehr, wo ihm der Kopf steht. Vor allem aber weiß er nicht, warum man ihn in das so verantwortungsvolle Amt des Direktors eingesetzt hat. Die einzige Konstante in seinem Leben bildet bald nur noch sein Zimmer in der alten Pension, und seine heimliche Liebe zu Frau Bürstner. Auch die hat einen steilen Aufstieg hinter sich und ist ebenfalls zur Direktorin berufen worden. Aber anders als K. ist sie sich ihrer Aufgabe bewußt. Die Machtansprüche des riesigen Konzerns weiten sich immer weiter aus, bis er sogar auf der Regierungsebene alle Fäden in der Hand hält und über Krieg und Frieden entscheiden kann. Das Personal des Konzerns scheint dabei beliebig ausgetauscht zu werden, ganz nach den Fähigkeiten und der Kompromißlosigkeit des Ange­stellten. Einzig und allein Herr K. scheint unverzichtbar. Und bevor selbst er unter die Räder des Kapitalismus kommt, erfährt er auch den Grund: Er gibt der Firma sein Gesicht, das nach jahrelangem geflissentlichen Arbeiten zu einem Aushängeschild der Moral geworden ist. (Quelle: suhrkamptheater.de)

Das Stück Der neue Prozeß – Stück in drei Akten – Franz Kafka gewidmet – habe ich als Taschenbuch (1. Auflage 1984 – edition suhrkamp 1215 – Neue Folge Band 215) vorliegen.

Peter Weiss 1982
Peter Weiss 1982

Während der Arbeit am ersten Band der Ästhetik des Widerstands dramatisierte Peter Weiss Kafkas Prozeß. Unmittelbar nach dem Abschluß der Roman-Trilogie, im Jahr 1981, begann er ein Stück zu schreiben, Der neue Prozeß, sein letztes Werk. Er inszenierte es zusammen mit Gunilla Palmstierna-Weiss am 12. März 1982 in Stockholm [Rolle des Josef K.: Stellan Skarsgård – genau der! – deutschsprachige Erstaufführung: Freie Volksbühne, Berlin, 25. März 1983 (Regie: Roberto Ciulli)]. Josef K. ist der „Held“ auch dieses Stückes – aber die Welt des Neuen Prozesses ist nicht mehr diejenige Kafkas, sondern die Gegenwart. Josef K. wird nicht eines Morgens verhaftet, „ohne daß er etwas Böses getan“ hätte, Josef K. ist Prokurist in einem großen Konzern. Wegen seiner Kenntnis der jeweils aktuellen politischen und ideologischen Strömungen, seiner Verantwortungsbereitschaft, seinem Eingehen auf die Nöte der Menschen ist sein Aufstieg, der Aufstieg des Intellektuellen zum Direktor des Konzerns, unumgänglich. Und auch dort, wo der multinationale Konzern die Konkurrenz auf dem Weltmarkt ausschaltet, verfügt K. über die große Menschheitspersepektive: „Wenn es keine Konkurrenz mehr gibt, ist auch der Eigennutz behoben. Dann dienen wir nur noch dem Allgemeinwohl.“ Für die Militärs und Minister ist er unersetzlich. Der neue Prozeß, den die Mächtigen dem Direktor K. machen, besteht gerade darin, daß er „ohne etwas Böses getan zu haben“, der Macht ihr Gesicht gegeben hat. (aus dem Klppentext)

siehe auch: Vergessene Stücke (13): Peter Weiss: Marat/Sade

Peter Weiss: Die Ästhetik des Widerstands

Die dreibändige Ausgabe des Romans Die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss habe ich in einem Band (1. Auflage 1988 – edition suhrkamp 1501) als Taschenbuch vorliegen und es in diesem Sommer zum 2. Mal gelesen. Die drei Bände umfassen über 940 Seiten und sind in zehnjähriger Arbeit zwischen 1971 und 1981 entstand. Das Werk stellt den Versuch dar, die historischen und gesellschaftlichen Erfahrungen und die ästhetischen und politischen Erkenntnisse der Arbeiterbewegung in den Jahren des Widerstands gegen den Faschismus zum Leben zu erwecken und weiterzugeben. Zentral ist der Gedanke der zu erreichenden Einheit: zwischen Kommunisten und Sozialdemokraten wie zwischen der künstlerischen Moderne und der Arbeiterbewegung. Aufgrund seines besonderen formalen Aufbaus ist Die Ästhetik des Widerstands auch als Roman-Essay bezeichnet worden. (Quelle u.a. Wikipedia.org)

Peter Weiss 1982
Peter Weiss 1982

Das erst kurz vor dem Tod des Autors abgeschlossene Werk zeichnet ein umfassendes Bild der faschistischen Epoche in Europa aus der Sicht des antifaschistischen Widerstands und könnte als eine eigenständige Geschichtsinterpretation gedeutet werden, die eine Sicht aufzeigt, die die allgemeine Geschichtsschreibung zu gern unterdrückt sähe. Von daher kam auch die Kritik, die dem Roman eine gewisse Einseitigkeit vorwarf.

Ich will hier nicht in die Tiefe gehen, aber anhand von Stichworten einen Einblick in dieses Werk vornehmen:

Erster Band
Bergamon-Fries (erste Sicht einer Ästhetik des Widerstands aus der Antike – der Aufstand der Niederen gegen die gottgleichen Herrschenden – siehe Kunstwerke in der „Ästhetik des Widerstands“)
– Nazi-Herrschaft
Spanischer Bürgerkrieg
Sagrada Familia (Gaudí)
Guernica (Picasso)
Kafkas Das Schloss (S. 171 ff).

Zweiter Band
– Paris
GéricautsMedusa
– Montmartre
Spiegelgasse, Zürich (Lenin & Co.)
-Stockholm
– u.a. Ossietzkys Tod
Bert Brecht
Margareta, u.a. Königin von Schweden, 14. Jh.
Engelbrekt, Freiheitskämpfer, 15. Jh.

Dritter Band
– Stockholm
Karin Boye: Kallocain
BayonAngkor Wat, Kambodscha
Angkor Thom
Dürers Melencolia (S. 132)
– Hinrichtungen Plötzensee (S. 210)

… denn die Offenheit, die uns zu eigen war und die unsre Selbstandigkeit begründete, sollte aufgerieben werden, und wie viele schon auf der Strecke geblieben waren, so zerstört, daß sie die Verunstaltungen, denen sie anheimfielen, nicht einmal mehr erkannten, das hatte mit großer Detailschärfe einer geschrieben, dessen Werk, Das Schloß, ich in der Buchhandlung am Marktplatz fand. (S. 171)

Peter Weiss setzt sich mit Kafkas ‚Erzählung vom Landvermesser‘ (S. 175) detailiert auseinander und kommt zu dem Ergebnis: ‚Was Kafka geschrieben hatte, war ein Proletarierroman.‘ (S. 179)

Der Roman Die Ästhetik des Widerstands ist, seit dem Erscheinen des dritten Bandes im Jahre 1981, zu einem Kultbuch geworden. Peter Weiss gelingt nämich eine erzählerische Synthese der politischen und ästhetischen Strömungen des 20. Jahrhunderts: er entfaltet eine Ästhetik, die Widerstand gegen jede Art der Unterdrückung ist, und zugleich dem Widerstand eine Ästhetik einschreibt, die ihn vor jeder Dogmatik bewahrt. Was erzählt dieser Roman? Sein erstes Buch berichtet von einigen Freunden, jungen Arbeitern, die im September 1937 in Berlin ihren Standort umreißen. Unter ihnen befindet sich der Erzähler. Über die Tschechoslowakei, wo seine Eltern ansässig sind, gelangt er nach Spanien und nimmt teil am bewaffneten Widerstand, bis zum September 1938, dem Zusammenbruch der Republik. Er geht nach Paris. Die letzten Bemühungen um die Bildung einer Volksfront, einer Einheitsfront der beiden zerschlagenen deutschen Arbeiterparteien, verfolgt er hier. Es ergibt sich die Gelegenheit, nach Stockholm zu reisen. Geschildert wird im zweiten Buch die Vielschichtigkeit der Erlebnisse dort, bei den Gängen durch die Stadt, in der Zerzinnungsabteilung der Fabrik, bei der Anstrengung, Zugang zu künstlerischen Ausdrucksmitteln zu finden. In den ersten beiden Bänden der Ästhetik des Widerstands wurde die Auseinandersetzung mit Werken der Kunst geführt; im abschließenden Teil der Trilogie stehen die Schicksale der Menschen im Vordergrund. Der Autor verfolgt ihre Wege: Endstation für viele von ihnen sind die Hinrichtungsstätten des „Dritten Reichs“. Dennoch bleibt der Widerstand ihr Vermächtnis. (aus dem Klappentext).

„Wir sagten: Ulysses – und das nicht allein, um den Rang der Weiss’schen Epopöe zu bezeichnen, sondern weil wir glauben, daß es sich bei der Ästhetik des Widerstands um einen ebenso listigen wie gelungenen Gegen-Entwurf zum Joyceschen Kompendium handelt – Herakles tritt auf den Plan und fordert Odysseus in die Schranken der Poesie!“ Walter Jens

Stanisław Lem: Die vollkommene Leere

Mitte September vor 100 Jahren, genauer am 12. September 1921, wurde der polnische Philosoph, Essayist und Science-Fiction-Autor Stanisław Lem geboren. Besonders durch seine ‚Zukunfts‘-Romane (z.B. Solaris und Golem XIV) ist er auch bei uns bekannt geworden. Lem gilt als brillanter Visionär und Utopist, der zahlreiche komplexe Technologien Jahrzehnte vor ihrer tatsächlichen Entwicklung erdachte.

Stanisław Lem 1966
Stanisław Lem 1966 (Quelle: wikipedia.org)

Ich selbst bin kein so großer Fan von Science Fiction. Viele Romane und Filme (ich denke da z.B. an Star Wars, Star Trek, alle die Superman und Superwoman-Filme) sind mehr oder weniger Märchen für Jugendliche und Erwachsene. Und so habe ich von Lem auch nur ein Buch in meiner Bibliothek, das keine Science-Fiction im herkömmlichen Sinne enthält: Die vollkommene Leere (suhrkamp taschenbuch st 707 – 1. Auflage 1981)

Das Buch enthält Rezensionen über nicht existierende Bücher. Als Erklärung schreibt Lem, dass der Autor Einfälle hatte, die er nicht in vollem Umfang zu realisieren vermochte; er konnte sie nicht niederschreiben … Es sind also Rezensionen über Bücher, die er selbst gern geschrieben hätte. Das ist übrigens nicht allein Lems Erfindung; nicht nur bei einem neuzeitlichen Schriftsteller – J.L. Borges – findet man derartige Versuche (z.B. Als „Besprechung des Werks von Herbert Quaine“ in dem Band „Labyrinthe“) […] auch Rabelais (Gargantua und Pantagruel) war nicht der erste … (S. 7)

Nun in der ersten Rezension schreibt Lem über ein Buch, dass diesem Buch den Namen gab: Stanisław Lem: Die vollkommene Leere – und schreibt am Ende: … Behauptung, nicht ich, der Kritiker, sondern er selbst, der Autor, hätte die vorliegende Rezension geschrieben … (S. 12) – und schafft so eine Art gedankliches Perpetuum mobile

Lem schafft Gedankenspiele der außerngewöhnlichen Art. In Les Robinsonades per Marcel Coscat schreibt er über Robinson Crusoes gesellschaftliches Leben, das es bekanntlich auf der einsamen Insel nicht gab. Er nennt es u.a. Soziologie der Einsamkeit oder eine Massenkultur einer menschenleere Insel. Höchst amüsant, wie ich finde.

In Patrick Hannahan – Gigamesh steht das Gilgamesch-Epos Pate (nur ohne den Buchstaben L) und wird in die Neuzeit ‚übersetzt‘. Hier wird „Gilgamesh“ zu einem G.I. J. Maesch mit einer „Vielfalt der Bezüge, die aus einem einzigen Wort entspringen, aus dem Titel nämlich.“ (S. 36)

Zu Simon Merril – Sexplosion nur ein Zitat: „… die […] Industrie der USA hatte die Stellungskünste des Ostens und des Westens verschlungen, aus den Fesseln des Mittelalters Gürtel der Untugend gemacht, die Kunst für die Projektierung von Beischlafstellungen, Seyarien, Magnopenissen, Megaklitoriden, Vaginetten und Pornotheken eingespannt, hatte sterilisierte Förderbänder in Betrieb genommen, von den Sadomobile, Kohabitatoren, Heimsodamäler und öffentlcihe Gomorkaden rollten, […] um den Kampf für die Befreiung des Geschlechts vom Dienst der Arterhaltung aufzunehmen.“ (S. 49) – Allerdings wird am Ende die Stellung, die der Sex eingenommen hatte, nun durch das Essen ersetzt.

In Alfred Zellermann – Gruppenführer Louis XVI. (Suhrkampf Verlag) versucht ein ehemaliger Gruppenführer der SS zusammen mit seinen ehemaligen Kameraden einen unabhängigen Staat zu bilden. Schauplatz der Handlung ist Argentinien im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Weltkrieges. Die Hauptstadt heißt „Parisia“ und befindet sich in einer Gegend, die mehrere hundert Meilen von den letzten Vorposten der Zivilisation entfernt liegt. Der SS-Gruppenführer Siegfried Taudlitz sieht sich als Reinkarnation Ludwigs XVI.

In diesem Stile geht es weiter (siehe Die vollkommene Leere bei wikipedia.org). In Arthur Dobb: Non serviam erzeugen Wissenschaftler im Computer Welten aus mathematischen Axiomen, in denen sich dann Personoiden entwickeln. Der Programmierer spielt Gott.

Zuletzt in Alfred Testa: Die neue Kosmogonie wird die Rede eines Professors anlässlich der Verleihung des Nobelpreises widergegeben. U.a.spekuliert der Redner, dass die Naturgesetze nicht unveränderlich sind, sondern durch uns überlegene Intelligenzen in einer Art Spiel umgeformt werden und darüber, was die Gründe für bestimmte momentane Naturgesetze sein könnten und ob sich mit den Naturgesetzen auch die Mathematik verändern könnte.

Aus dem Klappentext: In dem Maße, in dem Lem seine spiegelfechtenden Rezensionen und ausgedachten Autoren den Wirklichkeitsverlust von Denken und Sprache feststellen läßt, verdichten sich brillante literarische Parodie und ironische Berechnung wissenschaftlicher Aussagen zu einem rein literarischen hermetischen Gebilde – letztmögliche, hochartifizielle Reaktion eines utopischen Genres auf die fragwürdige Authentizität technologisch inspirierter Zukunftsvisionen. (Frankfurter Allgemeine Zeitung)

Wer sich auf das Buch einlässt, dass ohne Zweifel einen hohen Anspruch an den Leser stellt, wird sich eines außergewöhnlichen Lesegenusses erfreuen. Den Namen J.L. Borges habe ich oben erwähnt. Beide spielen mit ihren phantastischen Gedankenspielen in einer Liga.

Der Mensch erscheint im Holozän – ein Visual Poem nach Max Frisch

Wie der Zufall es so will, sendet 3SAT im Rahmen des Berliner Theatertreffens 2020 das Visual Poem nach Max Frischs Erzählung Der Mensch erscheint im Holozän in einer Aufführung des Schauspielhauses Zürich. Zufall deshalb, weil ich mich in den letzten Tagen mit Theaterstücken von Max Frisch beschäftigt und in diesem Jahr auch weitere Werke von ihm (erneut) gelesen habe (dazu später mehr).

Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän - 1. Auflage
Max Frisch: Der Mensch erscheint im Holozän – 1. Auflage

Alexander Giesche legt mit „Der Mensch erscheint im Holozän“ (verfügbar auf 3SAT bis 12.03.2021) am Schauspielhaus Zürich die erste große Inszenierung zum Thema Klimawandel vor. Er erhielt dafür im Rahmen des Berliner Theatertreffens 2020 den 3sat-Preis.

Schauspielhaus Zürich 2020: Der Mensch erscheint im Holozän – nach Erzählung von Max Frisch
Schauspielhaus Zürich 2020: Der Mensch erscheint im Holozän – nach Erzählung von Max Frisch

„Der Mensch erscheint im Holozän“ von Max Frisch ist eine Erzählung über das Vergessen und Vergehen. Mit dem Verlust des Gedächtnisses verschwindet auch der Mensch, verliert sich und die Kontrolle über das eigene Leben.

Ein Gefühl der Heimat bleibt, die vertraute Umgebung, die Natur, die Berge, der Schnee, wie das Licht ins Tal fällt zu verschiedenen Jahreszeiten. In einem durch ein Unwetter von der Außenwelt abgeschlossenen Bergdorf kämpft Herr Geiser gegen den fortschreitenden Verlust seines Gedächtnisses. Mit Hilfe kleiner Zettel, die er in seinem Haus verteilt, baut er sich eine Wissensdatenbank auf. Die Isolation macht Herrn Geisers zurückgezogenes Leben noch einsamer. Hinzu kommt die Sorge, dass durch den andauernden Regen der ganze Berg ins Rutschen geraten könnte.
Die Erzählung des Schweizer Autors Max Frisch erscheint 1979. Ein lange verkanntes Spätwerk. Der Regisseur Alexander Giesche nimmt den Text als Ausgangspunkt für seine Inszenierung am Schauspielhaus Zürich, die ganz um die Trias Mensch, Natur, Technik kreist. Er folgt dabei nur lose der Erzählung, sie ist vielmehr Stichwortgeber für immer neue Bilder, die dem Verlust, dem Vergessen, dem Abschied eine Form geben.

Eine Schauspielerin und ein Schauspieler berichten fragmentarisch über Herrn Geisers Zustand und den des Tals, mal aus seiner Perspektive, mal als Beobachter. Alexander Giesche nennt seine Werke Visual Poems. Die Inszenierung besteht aus klar voneinander abgegrenzten Bildern. Er lässt Krankenhausbetten und elektrische Rollstühle tanzen, zaubert Hologramme auf die Bühne und lässt einen erstaunlich realistischen Dinosaurier auftreten. Die verschiedenen Elemente und theatralen Mittel stehen dabei gleichberechtigt nebeneinander, sind alle Teil seines Gedichts.

Ein Abend, der scheinbar die Schönheit des Untergangs besingt. Auch die Menschheit wird einmal Geschichte sein oder wie Max Frisch es formuliert hat, „Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen.“ Aber Alexander Giesche schafft es aus diesem Fatalismus einen Hoffnungsschimmer, ein Gefühl der Wärme herauszuschälen. Das Verhältnis Mensch – Natur bleibt ein angespanntes. Unser schädlicher Einfluss auf den Planeten zeigt sich jeden Tag deutlicher.

Im Anschluss an diese Inszenierung ist Max Frisch mit seiner Dankesrede Die Schweiz als Heimat zur Verleihung des Schillerpreises am 12.01.1974 zu sehen. Hier setzt sich Frisch ebenso eloquent wie kritisch mit der eigenen Herkunft auseinander. Die Rede ist heute so aktuell wie eh und je.

Russische Wochen (5) – Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige!

Als ich mir das Buch vor vielen Jahren kaufte (1994 – denke ich), hatte es mir der absurde Titel angetan. Beim Lesen der sämtlichen Dramen von Vladimir Kazakov (in deutscher Transkription: Wladimir Kasakow) war ich zunächst etwas enttäuscht. Aber von Drama zu Drama – und es handelt sich um Minidramen von manchmal nicht einmal zehn Seiten Länge – fand ich zunehmend Gefallen an diesem Buch unter dem Titel Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! -– Edition Akzente Hanser 1990, München Wien – aus dem Russischen von Peter Urban.

Mit Vladimir Kazakov betritt ein Schriftsteller die Bühne (der Literatur), der das genaue Gegenteil zu dem ist, was wir uns unter einem russischen Autor vorstellen: seine komischen Lese-Stücke und verspielten Scharaden sind kleine Meisterwerke eines metaphysischen Lachtheaters, auf dem die großen Gesten respektlos unterbrochen, die pathetischen Weltentwürfe genüßlich zertrümmert werden. Eine Mischung aus Karl Valentin und Daniil Charms.
Vladimir Kazakovs verrückte Meisterstücke eines metaphysischen Lachtheaters haben den großen Vorteil, daß sie nur drei Minuten dauern und in jedem Kopf mühelos aufzuführen sind. Wer es nicht glaubt, muß selbst dran glauben.
(aus dem Klappentext)

Nun die Dramen sind nicht nur zur Aufführung für den Kopf gemacht, sondern wurden 1993 im Mousonturm Frankfurt und in der Kampnagel Fabrik Hamburg, Regie: Birgitta Linde – mit Ulrich Cyran – auch auf die Bühne gestellt.

Viel ist es nicht, was ich über den Autor finden konnte. Vladimir Kazakov wurde am 29.08.1938 in Moskau geboren und verstarb dort am 23.06.1988. Er trat 1972 der russisch-orthodoxen Kirche bei. Als Schriftsteller stand er in der Tradition des Futurismus, schrieb surrealistisch-absurde Kurzprosa und »Szenen«, die in der Sowjetunion bis 1989 nicht veröffentlicht werden konnten.

Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! - Sämtliche Dramen
Vladimir Kazakov: Unterbrechen Sie mich nicht, ich schweige! – Sämtliche Dramen

Diese Welt ist merkwürdig streng, gläsern, scharf, kalt. Stein, Eisen und Glas sind die Materialien, aus denen sie hauptsächlich besteht, zu ihrem Inventar gehören – den Menschen gleichgestellt und gleichberechtigt: die steinernen Wände, Hausmauern, Hausdächer, Fenster, der Spiegel, die Uhr. Vermessen werden die Beziehungen, Brechungen, Winkel, Schwingungen, die zwischen diesen Gegenständen entstehen – durch die Luft, durch das Licht und vor allem durch die Zeit, eine Zeit allerdings, die nicht identisch ist mit derjenigen, die die Uhr anzeigt, Zeit, die von Uhren, in Sekunden und Minuten gar nicht meßbar erscheint, eine Zeit, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zu einer beherrschenden Gleichzeitigkeit verschmelzen.
In dieser Gleichzeitigkeit agieren Menschen oder Personen, die wie surreale Puppen oder gar körperlos sich bewegen, sie erscheinen wie Gespenster, verschwinden wie Gespenster und offen bleibt letztlich, ob es sich bei diesen Kunstfiguren um Menschen handelt, die nicht nur eine Stimme, sondern auch einen realen Körper besitzen, oder um Geister, Erscheinungen, Spiegelungen, Stimme gewordene Erinnerungen, die, in der Stille der Kazakovschen Welt, mehr schweigen als reden.

[…]
In Kazakovs Dialog sind die Regeln und Verbindlichkeiten des allgemeinen Sprachgebrauchs aufgehoben. Kazakovs Personen sehen und hören das Wort jedesmal neu, sie erfahren die Wörter gleichsam staunend, als hörten und sagten sie sie immer wieder zum ersten Mal. Sie sind fähig, sich am Wort „Messer“ die Zunge zu verletzen, fähig, sich am Wort „Glas“ zu schneiden, sie empfinden die scharfe Spitze des Sekundenzeigers als ständige Bedrohung, das Wort „Sekunde“ ist für sie ein Stich, ist für sie – seinen sie nun körperlos oder reale Menschen – physische Wahrnehmung, Schmerz.
(aus dem Nachwort von Peter Urban)

Ich bin ein Freund des Surrealen, des Absurden. Was den meisten als grober Un-Sinn erscheint, hat aber unter seiner rauen Schale oft mehr Sinn als manches, was uns als Sinnvolles verkauft wird. Und wenn es dann doch total absurd ist, dann bringt es uns wenigstens zum Lachen. Das hat dann auch viel Sinn!

Ich habe mir einige Textpassagen im dem Buch unterstrichen, weil diese mir besonders gut gefallen oder ich sie auf bestimmte Weise bemerkenswert finde. Da das Buch leider nicht mehr verfügbar ist (außer im Antiquariat), hier einige dieser Sprüche, um sie gewissermaßen „der Nachwelt“ zu erhalten:

Gibts das andre, gibt es auch das eine.

Ich habe noch 183 Wörter zu leben.
Oder 5 Küsse.

Ich gehe über die Straße und sehe plötzlich, daß ich vergessen habe, aus dem Haus zu gehen.

Man sollte meinen, alles sei bereits gesagt. Aber es gibt auch vieles Nichtgesagte. Also schweigen wir.

Aber das ist ein schlechtes Thema zum Schweigen.

Ob Schlinge oder Schlips ist unwichtig. Auf den Hals kommt es an.

Dieser Himmel ist sehr unbeständig, stellen wir uns unter einen anderen.

Ich erinnere mich nicht, wenn mein Gedächtnis mich nicht trügt.

Ich rührte mich nicht, aus Angst, meinen Mut zu erschrecken.

Eine Minute besteht aus 60 Fragezeichen …

Das ist das Schicksal aller Unglücklichen – begraben zu werden zusammen mit dem eigenen Glück.

Unter zwei Übeln wähle ich das mittlere.


Meine Liebe ist wie das erste Eis des Winters, noch nicht fest genug.

Robert Walser: Mädchen

Es war im Jahr 1978, also vor nun 42 Jahren – ich war im noch zarten Alter von 24 Jahren -, da gönnte ich mir als Werkausgabe Edition suhrkamp (ja, die mit dem Reihendesign in Spektralfarben) das Gesamtwerk in 12 Bänden von Robert Walser (erste Auflage zum 100. Geburtstag). Irgendwie muss ich über Hermann Hesse auf Walser gestoßen sein. Aber gleich das Gesamtwerk?

    Robert Walser (1878 - 1956)
    Robert Walser (1878 – 1956)

Nun, es war nicht nur Hesse, der sich für Robert Walser einsetzte. Walser hatte auch einen zumindest heute prominenten Leser: „Wenige seiner Leser von 1909 dürften so klar und sicher wie Kafka in einem Brief geurteilt haben: ‚Ein gutes Buch.‘ (Auch Max Brod hat bezeugt, ‚Jakob von Gunten‘ [ein Roman von Robert Walser] sei ein Lieblingsbuch seines Freundes gewesen.)
aus dem Nachwort zu Jakob von Gunten – ein Tagebuch (1909)

Nun, um es vorweg zu nehmen: Die Investition hat sich gelohnt. Robert Walser fällt dermaßen aus dem Rahmen, den die Schriftsteller um die Zeit 1900 bis 1935 gebildet haben, dass es mich eigentlich wundert, Walser auch heute noch im Olymp deutschsprachiger Dichter zu wähnen.

Aber komme ich endlich zur Sache. Hier ein Gedicht von ihm, das im März 1927 im „Prager Tagblatt“ erstmals erschien. Max Brod war Mitarbeiter der Zeitung und hat Walser dadurch unterstützt, dass er von seinem Werk vieles veröffentlichen ließ (so schließt sich dann auch der Kreis Walser-Brod-Kafka):

    Das eine dieser beiden Mädchen
    sieht zierlich aus wie ein Salätchen
    von duftenden und zarten Blättchen
    und hat die schönstgeformten Wädchen
    und schaut zum Fenster still hinaus
    ins morgendliche Landschaftshaus.
    Des andern Mädchens Haar ist kraus
    wie ein zerzauster Blumenstrauß.
    Unangefochten steht die eine
    als Ungezwungene und Reine
    auf ausgesprochen feinem Beine,
    im Mieder vor dem Sonnenscheine.
    Die andre küßt und flüstert: „Du!“
    Besinnung schließt sich ganz ihr zu,
    sie zittert, knistert, lodern, puh,
    von Leidenschaft bis in die Schuh`
    und kennt im Herzen keine Ruh‘.
    Die erste weiß nichts von Genüssen,
    wofür noch jed` hat büßen müssen,
    sie gleicht mit jedem Atemzug
    dem wonnenangefüllten Krug.
    Die zweite ist von sündigfrommen,
    lüsternen Flammen eingenommen,
    von Ungenügsamkeit umglommen,
    und hat sie nicht mehr wegbekommen.
    Wie fröhlich, selig ist ein Leben,
    das heiter uns aus uns kann heben.
    Das ist`s ja eben, daß wir kleben
    am Körpers Nöten, statt zu schweben
    in unherabgezognem Streben,
    wie Reben, die im Trieb, zu geben,
    sich wohlbefinden an den Stäben.

Zu seiner Zeit wurde Walser Geschwätzigkeit vorgeworfen (bezog sich vor allem auf seine Romane). So ganz kann das nicht bestritten werden. Aber es ist eine besondere Geschwätzigkeit. Und besonders die Gedichte von ihm zeugen von einem Wort-Klang-Spiel von kindlichem Ernst. Wie das Gedicht ‚Mädchen‘ so sind viele mit „ziemlich gewollten, unglücklichen Reime[n]“ ausgestattet. Aber darin liegt der Reiz: Vielleicht sollten wir etwas kindlicher sein.

Hier nur ein kleines, weiteres Beispiel Walser’scher Dichtkunst:

“Schnee liegt vergnügt auf allen Dächern
wie längst vergeßne Brief in Fächern”

„Wie ich zum Dichten kam, weiß ich selber nicht recht. Das gab sich, wie sich sonst etwas gibt. Ich habe mich oft gefragt, wie es anfing. Nun, es fing bei einem Zipfelchen an und nahm mich fort. Kaum wußte ich, was ich tat. Ich dichtete aus einem Gemisch von hellgoldenen Aussichten und ängstlicher Aussichtslosigkeit, war immer hlb in Angst, halb in einem beinah übersprudelnden Frohlocken.“
Robert Walser

Albert Camus: Der Fall (1956)

    «Wenn die Zuhälter und Diebe immer und überall verurteilt würden, hielten sich ja alle rechtschaffenen Leute ständig für unschuldig! Und meiner Meinung nach muss gerade das verhindert werden.»
    Albert Camus: Der Fall (1956)

In diesem 1957 mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Roman Der Fall schildert Camus den Fall des Pariser Anwalts Johannes Clamans, der seine Karriere als erfolgreicher und beliebter Strafverteidiger der Pariser Hautevolee freiwillig aufgibt, um als um als Winkeladvokat und „Bußrichter“ unter den Asozialen im Amsterdamer Hafenviertel unterzutauchen. Clamans war aus seiner Selbstzufriedenheit und dem vermeintlichen Einklang mit der Welt gestürzt, als er eines Nachts an der Seine den Hilfeschrei einer Selbstmörderin gehört und nicht beachtet hatte. Damit beginnt sein Gewissenskonflikt; und in einer atemberaubenden Beichte voll eisiger Ironie und lateinischer Klarheit bekennt er, daß Selbstgefälligkeit und Opportunismus die Triebfelder seines Gerechtigkeitssinnes waren. (aus dem Klappentext)

Ich habe diesen gerade einmal 120 Seiten umfassenden Roman in folgender Ausgabe vorliegen: Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek bei Hamburg – 1044, 184.-193. Tausend Februar 1979 – aus dem Französischen übertragen von Guido G. Meister – Originalausgabe erschien unter dem Titel „La Chute“

Albert Camus: der Fall (1956)
Albert Camus: der Fall (1956)

Die Geschichte ist in Amsterdam angesiedelt und wird als Monolog vom selbsternannten „Bußrichter“ Jean-Baptiste Clamence erzählt, der einem Fremden seine Vergangenheit als erfolgreicher Anwalt offenbart. In seiner Lebensbeichte berichtet er von seiner Krise und seinem Fall, der als individuelle säkulare Version des Sündenfalls gesehen werden kann. Das Werk erkundet Themen wie Bewusstsein, Freiheit und die Sinnlosigkeit des menschlichen Lebens.

Die Besonderheit dieses Romans liegt darin, dass der Protagonist, der die Beichte ablegt, im ganzen Werk als Einziger zu Wort kommt. Der Verzicht auf einen allwissenden Erzähler, der auch Camus’ 14 Jahre zuvor erschienenen Roman Der Fremde prägt, nimmt dem Leser die Möglichkeit, das Geschehen zu objektivieren.

Nebelverhangene Grachten, kleine Brücken und unzählige Fahrradfahrer bestimmen das Bild von Amsterdam. 1954 entdeckte Albert Camus die niederländische Hauptstadt und empfand sie als klassisch und frech, aber auch düster – der ideale Konterpart zu seiner Melancholie. In Amsterdam siedelte der zukünftige Literaturnobelpreisträger seinen Roman „Der Fall“ an: die poetische Irrfahrt eines Mannes, der von der Schuld zerfressen wird. (Quelle: arte.tv)


Der Fall: Albert Camus und Amsterdam

Hier einige kurze Textpassagen, die teilweise allein für sich sprechen:

„… gepflegter Stil und Seidenhemden haben miteinander gemein, daß sie nur allzu oft einen häßlichen Ausschlag verbergen.“ (S. 8)

    „Wer keinen Charakter hat, muß sich wohl oder übel eine Methode zulegen.“ (S. 12)

„Wenn einer nicht umhin kann, Sklaven zu halten, ist es dann nicht besser, er nennt sie freie Menschen?“ (S.- 40)

    „Sie wissen ja, was Charme ist: eine Art, ein Ja zur Antwort zu erhalten, ohne eine klare Frage gestellt zu haben.“ (S. 48f.)

„Ich habe keine Freunde mehr, ich habe nur noch Komplicen. Dafür hat ihre Zahl zugenommen, sie umfaßt das ganze Geschlecht der Menschen. Und unter den Menschen kommen Sie an erster Stelle. Der just Anwesende kommt immer an erster Stelle.“ (S. 62f.)

    „… geben wir ihnen ja keinen Vorwand, […] uns zu richten!“ (S. 65)

„Glücklich und gerichtet oder freigesprochen und elend.“ (S. 67)

    „… und bliebt in einem Leben auch nur eine Lüge verborgen, verlieh der Tod ihr Endgültigkeit.“ (S. 75)

„… die Lobreden wurden mir je länger desto unerträglicher. Mir schien, die Lüge nehme damit immer mehr zu …“ (S. 76)

    „Um dem Lachen zuvorzukommen, verfiel ich also auf die Idee, mich der allgemeinen Lächerlichkeit preiszugeben.“ (S. 76)

„… es genügt nicht, sich anzuklagen, um seine Unschuld zu beweisen …“ (S. 79)

    „… der Dreck verleiht uns Haltung.“ (S. 82)

„… die Wahrheit […] ist zum Sterben langweilig!“ (S. 85)

    „… daß die echte Ausschweifung befreit, weil sie keinerlei Verpflichtung schafft.“ (S. 86)

„Es ist kein Gott vonnöten, um Schuldhaftigkeit zu schaffen oder um zu strafen. Unsere von uns selbst wacker unterstützten Mitmenschen besorgen das zur Genüge.“ (S. 92)

    „… daß die einzige Nützlichkeit Gottes darin bestünde, die Unschuld zu verbürgen …“ (S. 92)

„Es fehlt nie an Gründen, einen Menschen umzubringen. Im Gegenteil, es ist unmöglich, sein Weiterleben zu rechtfertigen.“ (S. 93)

    „Keine Entschuldigung [,,,] Ich lasse nichts gelten, weder die wohlmeinende Absicht, noch den achtbaren Irrtum, den Fehltritt oder den mildernden Umstand.“ (S. 109)

„Die Anklagerede ist zu Ende. Im selben Augenblick wird das den Mitmenschen vorgehaltene Porträt zum Spiegel.“ (S. 115)